[19] Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Donnerstag, 8. März 1934
Aktualisiert: 9. Juni 2025
* * *

[1] [2]
8. III 34
[fliegender Vogel]
Lieber Nordvogel
Frau Dr. Rom hier erzählte mir da Sie wußte durch ihrer Schwester, Frl. Gabarty der Freundin der Else Neustadt, Herr Dr. Brunschwig hatte mich damals eingeladen, er sei hier gewesen. Ich habe nie Ihren Namen genannt. parole d’honneur. Aber nun wird es Sie erstaunen, daß ich noch hier bin? Ich glaube Frau Dr. R. sagte Herrn Dr. das. Frau Rechtsanwalt Dr. Dunant, die wir befreundet sind, hat – (sie und ihr Mann, der Sohn des Schweizer Gesandten in Manchester,) sich beide für mich um mein egypt. Visum bemüht in Genf. Die Egypt. Familie schrieb mir vor paar Tagen, daß es auf dem Consulat in Cairo oder Alexandr. bewilligt sei. Es dauert immer 4 Wochen. Nun mußte es wieder nach Genf und erst in paar Tagen kann es in mein. Händen sein – der Pass zurück mit Visum. So wartete ich mit Schmerzen. Dort in Alexandrien [2] wird es besser gehn, da viel für mich geplant. Mein Vetter war hier der Besitzer der Frankfurter Zeitung in Frankfurt/Main, der auch hinschreiben wollte wegen beschleunigtes Visum. – da kein Deutscher mehr so leicht eingelassen. Er brachte mir das (Tagebuch) Buch, das zu Ehren meines Onkels Sonnemanns des Gründers der Frankfurter Zeitung herausgebracht wurde. Denken Sie, genau schildert er, natürlich realistisch das Haus, darin er die Dora kennen lernte, (mein Großelternhaus in Hexengäseke. das ich nie gesehen habe, da es abgerissen wurde.) Alles so merkwürdig. –
– Ich war krank, ich habe nichts mehr gegessen und getrunken und schlief immer ein. Alles ist in mir gebrochen, vorher verdorrt. Darum bin ich mich los und taumele so, von Wind und Wetter und der Laune, der immer unzufriedenen Leute – (fast alle – nicht alle hier) hin und her.
[Frauenkopf im Profil:] D. s. V.
Das heißt der säumende Vogel
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 6). Druck: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 9: Briefe. 1933–1936, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008, S. 103 f.
Frl. Gabarty • Fräulein Garbarski. – egypt. Visum • Vgl. zu [Brief 6] (»nach Alexandr.«). – Mein Vetter • Heinrich Simon. – Dora • So hieß eines der Kinder in der Erzählung »Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters« und im Schauspiel »Arthur Aronymus und seine Väter«. – Leopold Sonnemann war mit Rosa Schüler aus Geseke, einer Halbschwester von Else Lasker-Schülers Vater Aron Schüler, verheiratet. Heinrich Simon schildert in »Leopold Sonnemann. Seine Jugendgeschichte bis zur Entstehung der ›Frankfurter Zeitung‹« (Frankfurt: Societäts-Druckerei, 1931) den Ort und die Familie. Er schreibt (S. 137 f.): »In dem kleinen Ort Gesecke wohnte die schon lange dort ansässige Familie Schüler. Der alte Schüler war mehr als nur ein tüchtiger Kaufmann; er hatte es, trotz zahlreicher Kinder und Kindes-Kinder, zu Geld und Ansehen gebracht. | Der Geist des Schülerschen Hauses muß ein wenig Ähnlichkeit mit dem des väterlichen Hauses von Sonnemanns Mutter, dem Haus des alten Kopp in Höchberg, gehabt haben. Die Schülers bildeten den geselligen Mittelpunkt der ganzen Gegend, das Haus war von aufgeklärten, für die kleinstädtischen Verhältnisse erstaunlich wenig kleinstädtischen Menschen bewohnt.« Sonnemanns Tagebuch, das Simon in Auszügen mitteilt (S. 25–62), stammt aus den Jahren 1847/48, Rosa Schüler lernte er erst 1853 kennen.