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Von Berlin nach Jerusalem

Else Lasker-Schülers späte Prosaschriften. Vergessenes und Unbekanntes

Vortrag, gehalten auf Einladung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft am 4. Mai 1999 in Wuppertal.

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»Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters« und »Konzert« lauten die Titel der beiden Bücher, die Else Lasker-Schüler 1932, im Jahr vor ihrer Emigration, veröffentlichte; das Schauspiel »Arthur Aronymus und seine Väter« wurde lediglich als Bühnenmanuskript vervielfältigt. »Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters«, »der wahre Roman zu meinem Schauspiel: Arthur Aronymus und seine Väter«, wie Else Lasker-Schüler ihre Erzählung in einer Notiz charakterisierte, die sie in ihr Handexemplar des Buches eintrug, dürfte unmittelbar vor der Drucklegung entstanden sein. »Konzert« enthält fast ausnahmslos Gedichte und Prosatexte, die zuvor verstreut zwischen 1921 und 1932 in Zeitschriften und Zeitungen erschienen waren und die Else Lasker-Schüler für die Buchveröffentlichung meist nur geringfügig überarbeitet hat. Als die Dichterin Berlin im April 1933 verließ, war dieses auch in literarischer Hinsicht ein Einschnitt: Pläne oder Entwürfe für neue Arbeiten, die sie mit ins Exil nach Zürich nahm, sind nicht bekannt. In den knapp zwölf Jahren, die Else Lasker-Schüler im Exil verbrachte, erschien nur noch eine weitere Prosaschrift in Buchform: 1937 bei Oprecht in Zürich »Das Hebräerland«, das poetische Produkt der ersten Palästinareise im Frühjahr 1934. Kaum verwunderlich ist es somit, daß »Das Hebräerland« gleichsam ein Synonym für die Exilprosa Else Lasker-Schülers bildet. All das, was die Dichterin daneben meist in der Tagespresse veröffentlicht hat, ist bisher im Zusammenhang weder bibliographisch erfaßt noch veröffentlicht worden. Darüber hinaus werden im Nachlaß der Dichterin in der Jerusalemer Nationalbibliothek noch eine ganze Reihe von unveröffentlichten und zum Teil Fragment gebliebenen Prosatexten verwahrt: Das wichtigste Dokument bildet eine Kladde, betitelt »Die Heilige Stadt«, die den zum Teil ausgeführten, zum Teil nur in Stichpunkten überlieferten Plan eines zweiten Palästinabuchs enthält. Schließlich sind einige Typoskripte von Vorträgen erhalten, die Else Lasker-Schüler teils in Zürich, teils in Jerusalem gehalten hat. Nimmt man alles zusammen, so ergibt sich ein Buch, das kaum schmaler als »Konzert« von 1932 sein dürfte.

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In Zürich war es zunächst Eduard Korrodi, der langjährige Feuilletonredakteur der »Neuen Zürcher Zeitung«, der bereits in den zwanziger Jahren Texte Else Lasker-Schülers abgedruckt hatte und der ihr nun verstärkt Gelegenheit zu Veröffentlichungen gab. (Daß dieses politisch nicht unbrisant war, darauf sei nur am Rande hingewiesen: Den Emigranten war Erwerbstätigkeit untersagt.) Korrodi druckte zum einen Texte Else Lasker-Schülers, die von der Dichterin bereits in Berlin veröffentlicht worden waren. So erschien am 5. November 1933 in der »Neuen Zürcher Zeitung« die Erzählung »November«, die ein Jahr zuvor das »Berliner Tageblatt« abgedruckt hatte; am 25. Januar 1934 die aus »Konzert« bekannte Kindheitserinnerung »Unser Gärtchen«. Zum anderen veröffentlichte Else Lasker-Schüler auch zwei neue Erzählungen in der »Neuen Zürcher Zeitung«: am 21. August 1934 »Die weiße Georgine« und am 12. November 1934 »Vögel«. Gemeinsam ist den genannten Texten, daß es sich um Naturschilderungen handelt, die – zumindest auf den ersten Blick – politisch keinen Argwohn erregen konnten. Gleichwohl wäre es falsch, Else Lasker-Schülers Beiträge in der »Neuen Zürcher Zeitung« als unreflektiert oder gar als naiv zu charakterisieren. »Die weiße Georgine« und »Vögel« sind vielmehr Zeugnisse einer tiefen Entfremdung, mit der das schreibende Ich der Welt gegenübertritt. Dieses macht vor allem der Schluß von »Die weiße Georgine« deutlich:

»›Es muß schön sein,‹ meinte Georgine, ›ein Lebenlang zu glitzern‹ ..... ›Und nie würden wir vom Himmel fallen, ich noch du, meine weiße Milchstraße .... Die Menschen mögen sich gefälligst auch ohne unser Zutun etwas wünschen.‹«

Der Rückzug auf die Innerlichkeit des Dichtens, die ›innere Emigration‹, ist es, die Else Lasker-Schüler hier ihrer ›äußeren Emigration‹ zur Seite stellt.

Die »Neue Zürcher Zeitung« bildete kaum einen Ort, an dem es einer Emigrantin erlaubt war, zu den politischen Veränderungen in Europa Stellung zu nehmen. Dieses zeigt die Auseinandersetzung um die Uraufführung von Else Lasker-Schülers Schauspiel »Arthur Aronymus und seine Väter«, die am 19. Dezember 1936 in Zürich stattfand und die dort wenig Begeisterung hervorrief. Allen voran tadelte die »Neue Zürcher Zeitung« in ihrer Besprechung vom 21. Dezember die Anmaßung, mit der das Stück die Schweizer über Toleranz zu belehren versucht. Nach der zweiten Aufführung am 23. Dezember wurde das Stück abgesetzt. Einen Monat später entschloß Else Lasker-Schüler sich zu einer Stellungnahme in einem offenen Brief an die »Neue Zürcher Zeitung«. Der Umfang des Briefes, der im Typoskript mehrere Seiten mißt und der dann 1958 als Nachlaßveröffentlichung in der »Neuen Zürcher Zeitung« erschien, machte eine Ablehnung des Drucks leicht: Else Lasker-Schülers Ausführungen seien zu weitschweifig, als Reaktion auf die Kritiken vom Dezember 1936 dürften sie für die Leser kaum noch von Interesse sein – heißt es in zwei Stellungnahmen der Redaktion vom 2. und vom 3. Februar 1937. Else Lasker-Schüler kürzte daraufhin ihren Beitrag um gut zwei Drittel seiner ursprünglichen Länge – allerdings ohne Erfolg, was die Veröffentlichung betraf. Deutlicher als in der ursprünglichen Fassung werden nun die Motive, die Else Lasker-Schüler mit ihrer Zuschrift verfolgte. ›Wahre‹ Dichtung, so führt sie in den Kernsätzen aus, sei ›wesenhaft‹ unpolitisch:

»Der Dichter ist eben etwas Pflanzliches. Er gleicht dem Baum, der Früchte trägt, an dem es blüht im Lenz. Der denkt auch nicht darüber nach, wer sich im Sommer kühlt unter seiner schattigen grünen Laubsymphonie. Wer seine – Herzkirsche pflückt, .... gar – sich erhängt an seinem Stamm. – Ich habe auch nie etwas bezwecken wollen, Freude oder Leid, politisches noch unpolitisches, weder im Niederschreiben meines Schauspiels noch beim Dichten meiner neunzehn anderen Bücher und bin überrascht, da man mir plötzlich ein weltliches Motiv unterlegt. Ich habe mich auch nie politisch betätigt; im Gastlande nimmermehr. Aber es liegt mir fern, angesichts großer Politiker, mit der Thatsache – mich etwa zu rühmen, noch rein zu waschen. Mein Schauspiel der Biedermeierzeit enthält sich jeder Politik.«

Mit ihren Ausführungen irrte Else Lasker-Schüler sich in doppelter Hinsicht. Zum einen ist es – vor allem angesichts großer politischer Umwälzungen – wirklichkeitsfremd, für die Dichtkunst einen eigenen Lebensraum neben (oder gar über) dem des politischen Alltags zu beanspruchen. Umgekehrt muß es – was die Wirkungsmöglichkeiten von Dichtung betrifft – als geradezu fatal erscheinen, wenn Else Lasker-Schüler sich bemüht, politische Aspekte ihrer Dichtung zu verleugnen.

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In Zürich, wo Else Lasker-Schüler vom April 1933 bis zum März 1939 mit Unterbrechungen lebte, erschienen zwei namhafte Organe des jüdischen Gemeindelebens, die beide auch überregionale Bedeutung hatten: das »Israelitische Wochenblatt für die Schweiz«, gegründet 1901, und die »Jüdische Presszentrale Zürich«, gegründet 1917. Beide Zeitungen erschienen wöchentlich, setzten aber unterschiedliche Schwerpunkte: Das »Israelitische Wochenblatt« stand in der Tradition der ›Familienblätter‹, während die »Jüdische Presszentrale« sich zunächst vornehmlich als Mitteilungsblatt einer jüdischen Presseagentur verstand, die Nachrichten über das Leben der Juden in aller Welt sammelte, und sich erst im Verlauf der Jahre zu einer Zeitung mit einem eigenständigen redaktionellen Profil entwickelte. Bereits früh fand Else Lasker-Schüler im »Israelitischen Wochenblatt« Beachtung: 1917 erschien dort eine Besprechung ihrer »Gesammelten Gedichte«, in der Folgezeit berichtete die Zeitung regelmäßig über Lesungen, die die Dichterin in Zürich hielt. Ihre Veröffentlichungen im »Israelitischen Wochenblatt« aber blieben auf einzelne Gedichte beschränkt, die meist im Kontext von Mitteilungen über Lesungen abgedruckt wurden. Für die »Jüdische Presszentrale« schrieb Else Lasker-Schüler zwischen 1934 und 1938 mehrere, zum Teil umfangreiche Prosabeiträge, die thematisch dem jüdischen Geistesleben verpflichtet sind und die – anders als die Beiträge für die »Neue Zürcher Zeitung« – offensichtlich ganz bewußt im Hinblick auf die Veröffentlichung in einem bestimmten Organ verfaßt wurden. Nur erwähnt seien der frühste der längeren Beiträge mit dem Titel »Jugenderinnerungen an den Versöhnungstag«, der am 14. September 1934 erschien und der eine Überarbeitung der Erzählung »Der Versöhnungstag« aus der Sammlung »Konzert« bildet, und Else Lasker-Schülers Porträt des jüdischen Malers Simson Goldberg, das sie aus Anlaß seines 80. Geburtstags schrieb und das am 17. Mai 1935 in der »Jüdischen Presszentrale« erschien. (Bei Simson Goldberg hatte Else Lasker-Schüler um 1895 in Berlin Zeichenunterricht genommen.) Wichtiger sind die Annäherungen der Dichterin an Palästina, die sie in der »Jüdischen Presszentrale« veröffentlicht hat. Am 25. Mai 1934 – Else Lasker-Schüler hielt sich zu diesem Zeitpunkt zum erstenmal in Palästina auf – erscheint von ihr eine kurze Zuschrift aus Jerusalem, in der sie geradezu feierlich das Land begrüßt. Der kurze Text lautet:

»Ich liebe sehr das Meer, aber niemals wirkte es so auf mich, wie in Tel-Aviv.

Was hat man alles in diesem Wüstenlande geleistet! Alle diese Jungen und ›Alten‹, die wir Chaluzim nennen, haben ein Land aufgebaut, eine Heimat errichtet, dem Volke das Leben wiedergegeben! Und was uns am meisten Ehrfurcht einflösst, ist die menschlich-tragische Tatsache, dass alle diejenigen, die das Land aufbauen, die Früchte ihrer Arbeit nie völlig geniessen werden. Aber nun sah ich sie in ihrer Wiedergeburt, ich sah ihre Kinder und hörte deren Geplauder, da verstand ich die Gerechtigkeit des Schicksals und die Ganzheit der Geschichte, die andere Wege geht als der einzelne.«

Die Faszination, die das Land auf die Dichterin ausübt, gründet sich auf der dort herrschenden Aufbruchstimmung; der Gedanke der ›Wiedergeburt‹ und der ›Versöhnung‹ mit dem ›Schicksal‹ und der ›Geschichte‹ bestimmen – zumindest subjektiv – die Wahrnehmung Else Lasker-Schülers. Deutlich gekennzeichnet ist Palästina als ein Gegenentwurf zu Europa, zu den geschichtlichen Umwälzungen gleichermaßen wie zu den individuellen Schicksalen der Emigranten.

»Das Hebräerland«, in dem Else Lasker-Schüler nach ihrer Rückkehr aus Palästina die Eindrücke ihrer ersten Reise schildert, erschien als Buch im Frühjahr 1937. Im Herbst 1936, genauer am 23. Oktober sowie am 4. und 11. Dezember, erschien in drei Folgen in der »Jüdischen Presszentrale« ein Vorabdruck mit dem Hinweis, daß das Buch bald erscheinen werde und zur Subskription beim Verlag Oprecht stehe. Wichtig ist vor allem die erste Folge mit dem einleitenden Abschnitt des »Hebräerlandes«, den Else Lasker-Schüler bereits zuvor im März 1936 im »Pariser Tageblatt« veröffentlicht hatte. Deutlicher als in den postum erschienenen, von Friedhelm Kemp redigierten Drucken ist in der Erstausgabe der Charakter des einleitenden Abschnitts als eine Art Vorwort betont: Dieser ist durch einen Seitenwechsel (und nicht nur durch eine Leerzeile) vom folgenden Text abgesetzt. Poetisch verdichtet enthält der einleitende Abschnitt das, was die Dichterin auf den folgenden Seiten ihren Lesern nahezubringen versucht. Palästina wird charakterisiert als »das heilende Bad der Seele«, als »eine Offenbarung«, als »Gottes verschleierte Braut«, gar als »Seine Wohnung«, und wieder sind es die »Chaluzim«, die – wie bereits in der zitierten Zuschrift an die »Jüdische Presszentrale« – auf Else Lasker-Schüler eine besondere Faszination ausüben:

»Es tanzten auf unserem Schiff die kernigen jüdischen Landleute, die Chaluzim mit ihren bildhübschen Bäuerinnen unter freiem Himmel. Die Söhne und Töchter etlicher wohlhabender Judenfamilien Europas pilgerten schon vor vielen, vielen Jahren nach Palästina, ins Gebenedeite Land. Verließen Elternhaus und seine Obhut, sich der Erde des Heiligen Landes zu weihen, die Sümpfe Tiberias zu trocknen, ja ihr Leben zu opfern, mit Freuden hinzugeben für den Dienst des Herrn.«

Palästina, das nach fast 2000 Jahren neu und wieder erschlossene Land, bildet einen geschichtlichen Entwurf und ist nicht das beliebige Ziel einer beliebigen Reise – diesen Eindruck ihren Lesern zu vermitteln, ist zumindest das erklärte Ziel der Dichterin.

Im Sommer 1937 hielt Else Lasker-Schüler sich zum zweitenmal in Palästina auf und schrieb einige Reiseeindrücke in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Ich erzähle etwas von Palästina« nieder. Dieser erschien zunächst in Berlin im November 1937 in der »Jüdischen Rundschau«, dann überarbeitet in drei Teilen im Februar und März 1938 wiederum in der »Jüdischen Presszentrale Zürich«. (Berlin als Veröffentlichungsort mag befremdlich erscheinen: Aufgrund des Kontextes läßt sich Else Lasker-Schülers Aufsatz als eine Art Werbebeitrag für die Einwanderung deutscher Juden nach Palästina lesen.) Im Mittelpunkt von »Ich erzähle etwas von Palästina« stehen zentrale Stätten des Neuen Testaments: das Tote Meer und Genezareth. Mit der Hinwendung zum Neuen Testament, zum im jüdischen Sinne ›nach-biblischen‹ Palästina, offenbart sich für die Dichterin zugleich die historische Kontinuität, die vom biblischen Palästina hin zur Gegenwart führt. Über Tiberias heißt es:

»Die biblische Stadt hat sich nicht eine Spur verändert, nicht die unleserlichste Fußspur verstreut. Dieselben Fischer fischten am Genezarethsee wie zu Zeiten des Neuen Testaments und werfen ihre Netze aus. Auch Philippus glaubte ich unter ihnen zu erkennen.«

»Ich erzähle etwas von Palästina« ist der letzte Beitrag, den Else Lasker-Schüler über Palästina vor ihrer endgültigen Übersiedelung schrieb. In späteren Niederschriften tritt ein deutlicher Wandel der Perspektive ein: Die Dichterin ist nicht mehr Außenstehende, sie nimmt vielmehr teil am Alltag und vor allem an den Problemen, die die Bewältigung des Alltags mit sich bringt.

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Schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Paris zum wichtigsten Zentrum des Exils, sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht. Insbesondere etablierte sich in Paris eine reiche deutschsprachige Presselandschaft, die sehr schnell überregionale Bedeutung gewann. Es wäre sicherlich verfehlt, Else Lasker-Schüler als eine im engeren Sinne politische Dichterin oder gar als Literatin des antifaschistischen Widerstands zu charakterisieren. Tatsache hingegen ist, daß sie die publizistischen Bemühungen in Paris aufmerksam verfolgt hat. Die Frage, wie eng die Kontakte im einzelnen waren, läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten; das erhaltene Material erlaubt lediglich einzelne Hinweise.

Am 22. Mai 1939, drei Tage nach der Siegesparade Francos in Madrid, erhängte Ernst Toller sich in einem New Yorker Hotel. Bereits 1925 hatte Else Lasker-Schüler in der »Weltbühne« ein Gedicht auf ihn veröffentlicht: Anlaß war Tollers Entlassung aus der Festungshaft gewesen. Das Interesse, das Else Lasker-Schüler für Toller hegte, dürfte auf Gemeinsamkeiten beruhen, die sie im Lebensweg Ernst Tollers und im Schicksal des mit ihr befreundeten Anarchisten Johannes Holzmann sah. Für Holzmann, den Lesern der Gedichte Else Lasker-Schülers besser als »Senna Hoy« und als »Sascha« bekannt, hatte die Dichterin sich in den Jahren 1913/14 stark engagiert und war vergeblich nach Moskau gereist, um seine Entlassung aus russischer Haft zu erwirken. Ausführlich schildert Else Lasker-Schüler in einem Nachruf, den sie auf Ernst Toller verfaßte, ihre persönlichen Erinnerungen an Toller wie an Holzmann gleichermaßen. Im jüngeren der beiden erhaltenen Typoskripte heißt es:

»[…] beider Schicksale ähnelten sich; gestorben beide für die Menschheit! […] / Senna Hoy schnitt sich die Adern auf im Zuchthaus, schwer an Tuberkulose erkrankt. Er verblutete langsam, ja feierlich, ein erlegtes Wild. ›Es starb ein heiliger Feldherr ....‹, sagte der Hofrat, der Direktor des Schreckenhauses zu mir. / Auch Ernst Toller brach sich selbst vom jungen Zweige ab .. Von Dämmerung träumte so oft sein Herz. Seine Augen glichen Haselnüssen, verwundert, die eben erst aus der Schaale guckten. Seine Haare strömten herben Strauchduft aus.«

Diese Sätze dürften unmittelbar unter dem Eindruck der Nachricht von Tollers Tod geschrieben worden sein, denn schon bald schickte Else Lasker-Schüler ihren Nachruf an die in Paris erscheinende Wochenzeitung »Die Zukunft«. Deren ausführliche Berichterstattung über Tollers humanitären Einsatz für die durch den Bürgerkrieg notleidende spanische Bevölkerung dürfte Else Lasker-Schüler dazu bewogen haben, ihren Beitrag gerade an »Die Zukunft« einzusenden. Diese hatte allerdings in ihrer Ausgabe vom 2. Juni 1939 bereits ausführlich Tollers Lebenswerk mit vier Beiträgen von Walter Mehring, Kurt Kersten, Alwin Kronacher und Herrmann Steinhausen gewürdigt, und mit dem Hinweis auf diese Beiträge lehnte die Redaktion in einem Brief an die Dichterin vom 30. Juni 1939 den Abdruck eines weiteren Nachrufs ab. Entscheidend aber war vermutlich ein anderer Grund: Else Lasker-Schülers Erinnerungen an Ernst Toller (und Johannes Holzmann) waren, wie der zitierte Auszug andeutet, rein privater Natur und konnten so kaum ein allgemeines, d. h. öffentliches Interesse für sich beanspruchen.

Zu nennenswerten Abdrucken von Texten Else Lasker-Schülers kam es allein in der »Pariser Tageszeitung«, die anfänglich unter dem Titel »Pariser Tageblatt« erschien und die das namhafteste Organ der deutschsprachigen Presse in Paris bildete. Die »Pariser Tageszeitung« übernahm zum Teil bereits an anderem Ort gedruckte Texte, um ihren Lesern einen Eindruck von der Emigrantenliteratur zu vermitteln: An Beiträgen Else Lasker-Schülers wären die Erzählungen »Der Weihnachtsbaum« und »Nietzsche rettet Johanna« zu nennen; erstere war zuvor im Programmheft zur Zürcher Uraufführung von »Arthur Aronymus«, letztere in der »Neuen Zürcher Zeitung« erschienen. Else Lasker-Schülers wichtigster Beitrag ist der Erstdruck des Essays »Die Seele und ihr Licht«, der am 26. Mai 1935 im »Pariser Tageblatt« erschien. Mit dem Untertitel »Eine Psalmodie« reiht Else Lasker-Schüler ihren Essay in die Tradition der alttestamentarischen Psalmendichtungen ein, sie selbst betrachtet sich als direkter Nachkomme des ›Psalmenkönigs David‹. Thema des Essays sind die »Weltordnung« und die »Finsternis der Welt« einerseits und das »Gesetz der Seele« und das »Licht der Liebe« andererseits. In »Die Seele und ihr Licht« reflektiert die Dichterin auf die Frage, wie die Existenz Gottes angesichts der politischen Umwälzungen in Europa zu rechtfertigen sei, und betont die Selbstverantwortung, die der Mensch für sein irdisches Dasein habe: »Nicht Gott, auch nicht Seine lichte Welt ist tot, aber das Paradies deines Wesens verfinsterte sich.« Werner Kraft, der vermutlich nur Teile des Nachlasses eingesehen hat, merkt in »Verse und Prosa aus dem Nachlaß« zum Abdruck im »Pariser Tageblatt« lakonisch an: Dieser sei, »verglichen mit der Handschrift, vielfach verändert.« Der Essay »Die Seele und ihr Licht« hat für die Exilprosa Else Lasker-Schülers einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Dieses belegt allein die Tatsache, daß neben der Druckvorlage im Nachlaß zahlreiche Entwürfe erhalten sind, die zum Teil unmittelbar an den gedruckten Text heranführen und zum Teil das Thema des Essays variieren. Bemerkenswert an »Die Seele und ihr Licht« aber ist noch etwas anderes: Der Essay ist innerhalb des Gesamtwerkes der einzige Text, in dem die bildliche Darstellung eines Themas zugunsten abstrakter Gedankenführung in den Hintergrund tritt.

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Mit der Übersiedelung Else Lasker-Schülers von der Schweiz nach Jerusalem im März 1939 änderte sich für die Dichterin ihre Situation noch einmal grundlegend. Sie kam in ein Land, in dem es zwar Leser deutscher Literatur, aber kaum Möglichkeiten gab, in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Zu stark waren die Bestrebungen, auf dem Boden Palästinas einen rein ›hebräischen‹ Staat zu errichten. Dieses zeigen vor allem die Widerstände, die der in den Jahren 1942/43 in Haifa erschienenen Zeitschrift »Orient« entgegengebracht wurden, in der Else Lasker-Schüler mit einigen Gedichten vertreten war. Das wohl bekannteste deutschsprachige Presseorgan war das seit 1937 in Tel Aviv zunächst halbmonatlich, dann wöchentlich erscheinende »Mitteilungsblatt«, das sich in seinen Beiträgen speziell an den Interessen und Bedürfnissen deutschsprachiger Einwanderer orientierte. Daneben wären »Blumenthal’s Neuste Nachrichten«, seit 1937 täglich in Tel Aviv erscheinend, und die 1939 gegründete »Jüdische Welt-Rundschau« zu nennen. Lediglich zwei Prosaschriften Else Lasker-Schülers lassen sich aus dieser Zeit nachweisen: Am 12. Februar 1940 erschien in der »Jüdischen Welt-Rundschau« der Beitrag »Etwas von Jerusalem« mit dem Zusatz: »Aus meinem kommenden zweiten Palästinabuch: Tiberias«; im Jahr darauf, am 24. Oktober, im »Mitteilungsblatt« ein kleiner Artikel, betitelt »Das Marionettentheater des Direktor Löwy«.

Das gemeinsame Thema, das Else Lasker-Schülers Prosaschriften der letzten Lebensjahre verbindet, ist die Annäherung an Jerusalem, die Aneignung des neuen (und letzten) Lebensmittelpunktes der Dichterin. Die Entwürfe, die sie schrieb und die – vermutlich ohne größere Lücken – im Nachlaß erhalten sind, sollten in einem zweiten Buch über Palästina mit dem Titel »Die Heilige Stadt« veröffentlicht werden. Intention und Konzeption des geplanten Buches unterscheiden sich – soweit das erhaltene Material ein Urteil erlaubt – grundlegend vom literarischen Verfahren, das Else Lasker-Schüler in »Das Hebräerland« angewendet hat. »Das Hebräerland« ist ein Reisebericht – und dieses im doppelten Sinne: Entstanden ist »Das Hebräerland« nach der Rückkehr aus Palästina in der Schweiz; die Erzählperspektive ist die des Reisenden, der das Land am Ende wieder verlassen wird. Als Reisebericht ist »Das Hebräerland« in sich abgeschlossen, wobei der zeitliche Anfangs- und Endpunkt der Reise nicht nur rein äußerliche Grenzen markieren. Die Annäherung an Jerusalem, die Else Lasker-Schüler in »Die Heilige Stadt« darzustellen plante, wurde von der Dichterin als ein ›offenes Werk‹ konzipiert, dem ein Abschluß versagt ist. Deutlich wird dieses bereits, wenn man betrachtet, wie Else Lasker-Schüler ihre Entwürfe notiert hat.

Den Mittelpunkt des Überlieferten bildet das Kapitel »Auf der Galiläa nach Palästina«, 47 maschinenschriftlich beschriebene Blätter, die Else Lasker-Schüler in ihre Kladde »Die Heilige Stadt« eingeklebt hat. Formal erinnert der weitgehend in Dialogen abgefaßte Bericht über die dritte Seereise nach Palästina an die Märchensammlung »Tausendundeine Nacht«, auch wenn es keine Hinrichtung ist, die das Erzählen abwenden soll, und die Dichterin es sich lediglich zur Aufgabe gemacht hat, den Mitreisenden die Langeweile zu vertreiben. In zum Teil grotesk anmutenden Bildern schildert die Dichterin, die »im Wasserstern geboren im dritten Tang und Algenhaus, giftspritzend von der Seeschlange umzischt«, wie David, der ›Psalmenkönig‹ des Alten Testaments, sie in ihrem Berliner Hotel besucht habe. »Ich weiss«, heißt es gegen Ende, »Davids Seele lebt! Nach tausendmaltausend Jahren seine unsterbliche Seele im Scheinleibe zu mir in meine schlichte Stube trat. David lebt! Ihr Menschen der Heiligen Stadt, David lebt! Ich bin seine Zeugin.« Der Versuch, in einem über weite Strecken launig geführten Dialog die Zuhörer (und Leser) vom Fortleben des biblischen Palästinas in der Gegenwart zu überzeugen, gehört sicherlich nicht zu dem, was Else Lasker-Schüler im besonderen Maße poetisch gelungen ist. Gleichwohl sollte »Auf der Galiläa nach Palästina« nicht unterbewertet werden: Mit den grotesken Momenten schließt Else Lasker-Schüler an Gestaltungsmerkmale vor allem ihrer frühen Lyrik an; der Gedanke, daß Biblisches für den Dichter unmittelbar sinnlich erfahrbar sei, bildet geradezu einen Wesenszug ihrer Dichtung.

Dem Kapitel »Auf der Galiläa nach Palästina« vorangestellt ist der bereits zitierte Aufsatz »Ich erzähle etwas von Palästina«, eine Reminiszenz an die zweite Palästinareise von 1937. In der Gesamtkonzeption des geplanten Buches dürfte der Text des eingeklebten Zeitungsausschnittes als eine Art Überleitung von der ersten Palästinaschrift »Das Hebräerland« gedacht gewesen sein. Anschließen an das Kapitel über die Seereise sollte die Schilderung eines Spaziergangs durch Jerusalem: Eingeklebt in die Kladde ist der Mitte Februar 1940 in der »Jüdischen Welt-Rundschau« erschienene Beitrag »Etwas von Jerusalem«. Zweckfreiheit, so scheint es zunächst, zeichnet den geschilderten Spaziergang aus; dieses deuten zumindest die Eingangsworte »Ich wandele so für mich hin …« an. Aber schon wenig später wird deutlich, daß es der Dichterin um mehr geht, nämlich um die Erkundung des neuen Lebensraumes:

»Ich komme mitten aus der Stadt Jerusalem. Ich liebe es, mitten in der Stadt jeder Stadt zu wohnen und – erst in Jerusalem! Gemütlich hinter den Hecken irgendwo, käme mir wie eine Flucht vor Begebenheiten vor. Ich möchte eben weder Erfrischendes, aber auch nicht Schmerzendes versäumen, nicht das Leid noch das plötzlich strahlende Lächeln eines beschenkten Kindes.«

Im Nachlaß Else Lasker-Schülers ist als Typoskript eine frühe Fassung des Beitrags »Etwas von Jerusalem« erhalten. Diese ist – so lassen einzelne Zeitangaben erkennen – wahrscheinlich schon bald nach der Ankunft der Dichterin in Jerusalem Ende März 1939 entstanden. Denkbar ist, daß es sich bei dem geschilderten Spaziergang um den ersten Rundgang durch die Stadt handelt.

Zwei Zeitungsausschnitte und ein Typoskript sind alles, was Else Lasker-Schüler in »Die Heilige Stadt« ›eingearbeitet‹ hat. Darüber hinaus notierte sie eine ganze Reihe von Stichworten, die einzelne Aspekte des geplanten Buches markieren. Am leichtesten faßbar sind die auf einzelnen Seiten eingetragenen Aktnummern, die sich zweifelsfrei auf das Schauspiel »IchundIch« beziehen, das im Hinnomtal, im nach biblischer Überlieferung ›unreinen Höllental‹, unmittelbar benachbart dem Davidsturm der Jerusalemer Altstadt gelegen, und im Garten des mit Else Lasker-Schüler befreundeten Augenarztes Abraham Ticho spielt. Erweist sich schon die Deutung von »IchundIch« als schwierig – vor allem wegen der Fülle von Anspielungen und Zitaten, die weitgehend die Dialogführung bestimmen –, so bleibt der Versuch, das Schauspiel in den Kontext des unvollendeten Palästinabuchs zu integrieren, auf Vermutungen angewiesen. Sicherlich bildet die groteske Szenerie eine Art Gegenentwurf zu den realistischen Straßenszenen in »Etwas von Jerusalem«. Naheliegend ist es auch, in dem »Höllenspiel« – wie die Dichterin als dramatische Figur ihr Stück bezeichnet – eine Schilderung Jerusalems als Ort des Jüngsten Gerichts zu vermuten. Gerade aber eine so weitreichende Deutung läßt Fragen im Hinblick auf die Gesamtkonzeption von »Die Heilige Stadt« offen. Denn nichts lag Else Lasker-Schüler ferner, als Endzeit zu verkünden. So schreibt sie in einer Einführung, die sie ihrer ersten Lesung von »IchundIch« in Jerusalem am 20. Juli 1941 voranstellte: »[…] wir wollen heiter diesen Abend sein […].« ›Heiter sein‹ meint hier im Kontext: unbekümmert und sorglos sein.

Besonders am Herzen lag der Dichterin zeitlebens das Schicksal der Kinder. Zwei Notizen benennen Abschnitte, in denen Else Lasker-Schüler plante, sich in »Die Heilige Stadt« mit ihm auseinanderzusetzen: »Vom Kinderdorf: Ben Schemen und seinen Gulivers« und »Hier die armen Kinder. Zeitungsverkäufer«. Das 1927 von Siegfried Lehmann unweit von Lod gegründete Jugenddorf bildete eine zentrale Einrichtung für die organisierte Einwanderung von Jugendlichen nach Palästina und wird von Else Lasker-Schüler in »Das Hebräerland« kurz erwähnt. Näheres vermag lediglich zu dem gesagt werden, was sich hinter dem Stichwort »Zeitungsverkäufer« verbirgt. Im Nachlaß erhalten ist ein Manuskript, das Werner Kraft in »Verse und Prosa aus dem Nachlaß« mit dem schlichten Titel »Aufzeichnung« veröffentlicht hat. Else Lasker-Schüler formuliert ein 10 Punkte umfassendes Programm, das die Not der auf den Straßen von Jerusalem als »Zeitungsverkäufer« lebenden Kinder lindern soll. Unter anderem fordert sie – auf das Schicksal ihres an Tuberkulose gestorbenen Sohnes reflektierend – Vorsorgeuntersuchungen, die Lungenerkrankungen vorbeugen sollen. Im letzten Punkt beklagt sie die dürftigen hygienischen Verhältnisse: »Mit Entsetzen erfüllt mich die Verkommenheit der armseligsten Elendvierteln. Manchen Bewohnern fehlt es an Wasser – rein zu halten ihre Stube. Sie können kein Wasser kaufen.« Der Mangel an ›reinem Wasser‹ führt zu einer vor allem in arabischen Ländern weit verbreiteten Entzündung der Augenbindehaut, Trachom oder ägyptische Augenentzündung genannt, die dauerhaft den Erkrankten erblinden läßt: Der Jerusalemer Augenarzt Abraham Ticho, in dessen Garten der Schluß von »IchundIch« spielt, hat sich um die Bekämpfung der Krankheit verdient gemacht. Mit ihren Forderungen dürfte Else Lasker-Schüler an die Öffentlichkeit getreten sein. Überliefert ist ein kurzer Vortrag, den sie wohl zur Eröffnung eines Wohltätigkeitsabends zugunsten eines Kinderheims gehalten hat. Wie sehr der Dichterin das Schicksal gerade der Jerusalemer Kinder am Herzen gelegen hat, zeigt eine handschriftliche Notiz, die sie dem Typoskript ihres Vortrags zugesetzt hat: »Für mein II. Palästinabuch! / Vorrede!« – Ausgehend von Else Lasker-Schülers Forderungen zum Schutz der Kinder, lassen sich weitere Texte in das zweite Palästinabuch integrieren. Hingewiesen sei nur auf einen in drei Fassungen überlieferten Essay mit dem Titel »Deine Seele«, in dessen Mittelpunkt das Schicksal der Lastesel und der jugendlichen Treiber steht, die das Fortschreiten der Bauarbeiten in Jerusalem entscheidend fördern. Else Lasker-Schüler beschränkt sich hier nicht darauf, konkrete Maßnahmen zur Linderung der Not zu fordern, sondern weist darüber hinaus auf die Verantwortung hin, die der Mensch der Schöpfung gegenüber hat:

»Erbarmen erntet Erbarmen! Erbarmungslosigkeit: Erbarmungslosigkeit! Dieses Urgesetz steht in Erz geprägt von blitzenden Wolken beleuchtet vor der Pforte des Himmels. Auch die Gesetze sind vom Göttlichem Gärtner gesäet worden, jedeines Korn – gebucht.«

Einige weitere Stichpunkte, die Else Lasker-Schüler in ihrer Kladde notiert hat, seien lediglich genannt: »Die Ankunft in Tel-Aviv mitten im Ozean«, »Gärten«, »Synagogen in den Gassen«, »Museen«, aber auch »Bagdad Damaskus Kairo«. Es war sicherlich nicht allein, vielleicht auch nicht primär das Alter, das Else Lasker-Schüler an einer Fortführung und an einem Abschluß von »Die Heilige Stadt« gehindert hat. Zu disparat waren – bedenkt man vor allem die Stellung von »IchundIch« – letztlich die Themen, die es galt zu integrieren.

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Gemeinsam ist den bisher vorgestellten Texten, daß die Dichterin sich relativ eng an die aktuelle Lebenswirklichkeit hält, daß sie nicht abschweift und ins ›beliebige‹ Fabulieren gerät. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich bei der Interpretation einzelner Aspekte ergeben, sind die Inhalte nachvollziehbar, d. h., für den Leser vermittelbar aufgrund der Erfahrungen, die Else Lasker-Schüler nach 1933 in der Schweiz und in Palästina gemacht hat. Umso befremdlicher wirkt ein weiterer umfangreicher Text, die »Tagebuchzeilen aus Zürich«, die ursprünglich den bescheideneren Titel »Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich« trugen. Überliefert sind zwei Typoskripte, wobei es sich bei einzelnen Blättern des jüngeren Typoskripts lediglich um handschriftlich überarbeitete Durchschläge des älteren handelt: Dieses betrifft auch das erste Blatt und die Änderung des Titels von »Ein paar Tagebuchblätter« in »Tagebuchzeilen«. Bei beiden Typoskripten handelt es sich um in sich geschlossene Fassungen: Der Eindruck des Fragmentarischen, der gelegentlich konstatiert wird, dürfte vor allem auf der Tatsache beruhen, daß Else Lasker-Schüler damit begonnen hat, Reinschriften einzelner Passagen anzufertigen, ohne die entsprechenden Blätter in das vorhandene Konvolut zu integrieren. Die Arbeit an den »Tagebuchzeilen« läßt sich – aufgrund von Zeitangaben, die sich im Text finden – auf die zweite Jahreshälfte 1938 und den Anfang des Jahres 1939 datieren. Einzelne auf den Rändern eingetragene Hinweise für den Setzer belegen, daß die Dichterin zunächst geplant hat, ihre »Tagebuchzeilen« in Buchform oder als Zeitschriftenbeitrag zu veröffentlichen. An die Öffentlichkeit trat Else Lasker-Schüler mit ihren »Tagebuchzeilen« schließlich nur in Form eines Vortrags, den sie am 15. März 1939, unmittelbar vor ihrer Abreise nach Palästina, in Zürich im »Zunfthaus zur Meise« gehalten hat. Der Text des Vortrags, dessen Umfang etwa die Hälfte der »Tagebuchzeilen« beträgt, ist vollständig im Nachlaß erhalten. Daneben finden sich zwei Typoskriptseiten, die offensichtlich zu einer ersten verworfenen Fassung gehören.

Else Lasker-Schüler fühlte sich allen Widerständen zum Trotz, die man ihr in der Zeit des Exils entgegengesetzt hatte, der Schweiz eng verbunden. Dieses zumindest ist der Grundtenor ihrer »Tagebuchzeilen«. Aus diesem Grund dürfte sie sich auch entschlossen haben, das Land nicht ohne einen ›Abschiedsvortrag‹ zu verlassen. Ihren ursprünglichen Plan, bei diesem Anlaß die »Tagebuchzeilen« vorzutragen, verwarf Else Lasker-Schüler und entschied sich, einen eigenen Vortrag zu schreiben, in dem es einleitend heißt:

»Es ist mir leider nicht vergönnt, Ihnen die angekündeten Tagebuchzeilen vorzulesen, die ich viele Abende in den letzten Monaten verbrochen. Ueberstündlich müsste ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen; (die Tagebuchzeilen wuchsen mir über den Kopf) und ich möchte doch guten Angedenkens von Ihnen scheiden.«

›Über den Kopf‹ war der Dichterin wohl in erster Linie nicht der Umfang, sondern der Inhalt ihrer »Tagebuchzeilen« gewachsen. Verweise in Form von Zitaten bleiben dann auch innerhalb des Vortrags auf einige wenige Passagen beschränkt. Die Lust zu fabulieren und das Spiel mit der Form der lyrischen Gattung prägen weitgehend den Inhalt der »Tagebuchzeilen«. Deren »Thema« faßt Else Lasker-Schüler in einigen Versen zusammen: Sie wolle »schütteln«, heißt es, »Reime aus der Aermel Nähte, / Zu zaubern aus der Luft beredte / Verse, sogar aus der Ferse, / Sehr betreten und verdrehte.« Daß Verse wie die zitierten, von denen sich in den »Tagebuchzeilen« einige hundert finden, vielleicht einen gewissen Unterhaltungswert besitzen, aber kaum einen Text zusammenhalten können, dürfte unzweifelhaft sein. Recht verloren wirken so auch einige längere Prosaabschnitte, in denen Else Lasker-Schüler Themen anspricht, die ihr persönlich am Herzen lagen. Lediglich hingewiesen sei auf den Bericht über eine Ausstellung von Zeichnungen ihres Sohnes Paul, die der Verein Künstlerhaus am Hirschengraben im September 1938 in Zürich veranstaltete. Hierbei handelte es sich um die erste öffentliche Würdigung, die – sieht man von einigen wenigen Zeitschriftenabdrucken ab – den Arbeiten des Sohnes zuteil wurde. Gegen Ende der »Tagebuchzeilen« zitiert Else Lasker-Schüler ihr Gedicht »Der alte Tempel in Prag« mit dem Hinweis, es sei während »des Weltkriegs gedichtet von mir an einem Schabbatt.« Die Erinnerung an die zahlreichen jüdischen Soldaten, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben und gefallen sind, gibt ihr Gelegenheit zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen über die Situation des jüdischen Volkes, das stets von Verfolgung bedroht war: Die nationalsozialistischen Exzesse, die Zerschlagung der »Gedenktafel[n] mit den Namen unserer treuen tapfernden hebräischen Soldaten«, erinnern an die »Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem«, und im Exil, in der »Unrast«, die dem »Verfolgten« auferlegt ist, manifestiert sich nichts anderes als die Sehnsucht nach der »Gottesnähe in der Heiligen Stadt«. Dahingestellt sei, daß Vergleiche dieser Art, 1939 niedergeschrieben, im nachhinein als Verharmlosung der nationalsozialistischen Greueltaten betrachtet werden müssen. Entscheidend ist allein die Tatsache, daß sich Überlegungen zur Geschichte des Judentums kaum mit launigen Reimereien über den Alltag der Dichterin in Zürich vermitteln lassen.

Der Vortrag, mit dem Else Lasker-Schüler sich am 15. März 1939 aus Zürich verabschiedete, ist sorgfältiger gestaltet. Deutlich wird das Bemühen der Dichterin, die Erfahrungen, die sie im Exil gemacht hat, in prägnanten Worten zu formulieren. Nicht gegen Ende wie in den »Tagebuchzeilen aus Zürich«, sondern einleitend berichtet sie vom Schicksal des Judentums und vergleicht die biblische Zeit mit der Gegenwart, diese wie jene von Vertreibung geprägt. Am Schluß dieses Abschnittes, der etwa ein Drittel des gesamten Vortrags ausmacht, setzt Else Lasker-Schüler eine deutliche Zäsur und trägt ihr bereits 1905 erschienenes Gedicht »Vollmond« vor, eines der frühen Gedichte, in dem die Sehnsucht nach Jerusalem zum Ausdruck kommt: »Wo bist du ferne Stadt mit den sammtnen Lüften?« Das Gedicht, für den Vortrag offensichlich ohne Vorlage eines Drucks niedergeschrieben, weist am Schluß eine bemerkenswerte Variante auf. Im Erstdruck lauten die Verse 7 bis 9: »Immer senken sich meine Lider / Ueber die Welt / Alles schläft ....« Im Text des Vortrags heißt es: »Immer senken sich meine Lider, vom Suchen müde über die Welt.« Deutlich zutage tritt die gewandelte Perspektive des Gedichts: Dem lyrischen Subjekt, ursprünglich im Einklang mit der Welt (»Alles schläft«), ist die Wirklichkeit fremd geworden; es begegnet ihr, »vom Suchen müde«, nicht frei von Resignation. – Im weiteren Verlauf des Vortrags schildert Else Lasker-Schüler Begegnungen, die für sie in Zürich von besonderer Bedeutung waren. Eine zentrale Stelle nehmen hier die Vertreter der jüdischen Gemeinde ein. Wichtigstes Stilmittel ist die konkrete Anrede von und der Dank an Personen, die im Publikum anwesend waren oder die Else Lasker-Schüler als Gäste ihres Vortrags erwartet hatte. Auf ein Leitmotiv, das in den »Tagebuchzeilen aus Zürich« immer wieder angesprochen wird, verzichtet die Dichterin: Unerwähnt bleibt die mangelnde politische Unterstützung, mit der die exilierten Schriftsteller in der Schweiz zu kämpfen hatten. Mit diesem Thema hatte Else Lasker-Schüler versucht, sich in den »Tagebuchzeilen« humoristisch auseinanderzusetzen. – Den Schluß des Vortrags bildet wiederum ein Gedicht, das Gedicht »Weltende«, das bereits 1903 in einer Anthologie erschienen war. Bezeichnend für Else Lasker-Schüler ist weniger das im Titel angedeutete Thema des Gedichts als vielmehr die Tatsache, daß die Dichterin auf eine frühe und recht bekannte Veröffentlichung zurückgreift. Der Eindruck der Verbitterung über ihr aktuelles Schicksal, den Verse wie »Es ist ein Weinen in der Welt« erwecken könnten, wird auf diese Weise gemildert, wenn nicht gar vollständig aufgehoben.

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Als letzter größerer Komplex, mit dem Else Lasker-Schüler sich in Jerusalem auseinandergesetzt hat, ist ihr Versuch vorzustellen, den Ursprung des Antisemitismus zu ergründen. Erhalten sind vier Niederschriften mit dem Titel »Der Antisemitismus«: zwei kürzere handschriftliche Entwürfe, ein zwölf Seiten umfassendes und mehrfach überarbeitetes Manuskript, das den ›ausgeführten‹ Text von »Der Antisemitismus« enthält, schließlich eine maschinenschriftliche Reinschrift, nach der Werner Kraft den Text 1961 in »Verse und Prosa aus dem Nachlaß« gedruckt hat. Bei »Der Antisemitismus« dürfte es sich um den spätesten Text handeln, den Else Lasker-Schüler verfaßt hat. Ihre Schriftzüge sind ungewöhnlich fahrig, einzelne Passagen lassen sich kaum entziffern. Die Niederschriften sind zwar nicht datiert, der Text aber enthält einen Hinweis, der eine Einordnung in das Jahr 1944 erlaubt; im Manuskript heißt es: Sie habe »die liebwerten treuen Freunde und Freundinnen vor etwa elf Jahren« verlassen müssen. »Der Antisemitismus« enthält auch Else Lasker-Schülers wohl letztes ausgeführtes Gedicht »Mein Sterbelied«: »Bin welk und mürbe – / Mir ist, als ob ich stürbe – / Ja, gestorben ›bin‹.« Dieses seien – so die Dichterin in ihrer Vorbemerkung zum Gedicht – ihre »letzten Worte«, die sie »einem Jemand hier, den ich liebte«, hinterließ.

Verfehlt wäre es, Else Lasker-Schülers Ausführungen zum Antisemitismus mit und an den Maßstäben der Ideologiekritik zu messen. Einer Diskussion über den geschichtlichen Ursprung und über historische Ursachen entzieht die Dichterin sich bereits im ersten Satz, indem sie den Antisemitismus als etwas von ›Natur‹ Gegebenes und der menschlichen ›Natur‹ eigen hinstellt: Er sei eine »Erbschaft, eine Eigenschaft, die erblich, die man erbt«, ein »Erbschatz«, an dem der Mensch »an Seele und Gemüt zu verarmen droht« und der ihm mit der »Fratze der Gehässigkeit« gegenübertritt. Die Kreuzigung Christi sei nur ein Vorwand, um den »Zorn auf das jüdische Volk« zu rechtfertigen:

»›Liebet euch untereinander‹! ..... lehrte, – ›ermahnte‹ der göttliche Jude! Nach seinem Tode taufte man ihn als ersten nach vergangenen Zeiten. Das heißt: man errichtete ein Wand zwischen Ihm und Seinem einstigen Volke. ›Liebet euch untereinander.‹ Ermahnte Er!! ..... – Aber – sie säeten und säen grausamsten Haß – noch heute die Stiefvölker, auf seine Geschwister. Auf die unzähligen schuldlosen an des Herrlichen Kreuzestod.«

Zwar sei der Antisemitismus in der Geschichte nicht zu überwinden, dem Menschen als Individuum, dem die Möglichkeit zu selbstverantwortlichem Handeln gegeben ist, aber bleibe es aufgegeben, für die ›Lehre‹ und die ›Mahnung‹ des Gekreuzigten einzutreten. Angesichts der geschichtlichen Realität des Jahres 1944 muß der Standpunkt, den Else Lasker-Schüler vertritt, sicherlich als weltfremd bezeichnet werden. Persönlichkeiten, die der Menschheit als Vorbilder dienen können, findet die Dichterin dann auch vor allem in ihrem engeren Freundeskreis. Sie nennt den Bohemedichter Peter Hille, dessen Bruder katholischer Geistlicher war, und den Berliner Priester Carl Sonnenschein, dessen Arbeit sie 1929 in einem Nachruf gewürdigt hatte. Aus dem Bereich der politisch bedeutsamen Persönlichkeiten nennt sie den amtierenden Papst Pius XII., der – wie sie anmerkt – »den Antisemitismus schon als Knabe verachtete und mißbilligte«. Als Gewährsmann für ihre Einschätzung führt sie Carl Sonnenschein an, der mit dem späteren Papst aus der gemeinsamen Studienzeit befreundet war; Kenntnis von der zumindest nicht unumstrittenen Haltung des Papstes zur Politik des Dritten Reiches dürfte sie kaum besessen haben.

Else Lasker-Schülers Essay über den Antisemitismus bildet keine Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen und politischen Phänomen, er stellt vielmehr ein Aufruf zur Versöhnung und zum menschlichen Miteinander dar. Mit den Worten: »›Liebet euch untereinander.‹« endet folgerichtig der Essay. Diese Forderung als eine Art Vermächtnis zu charakterisieren, dürfte der Dichterin kaum gerecht werden. Else Lasker-Schüler stellt vielmehr in ihrer vermutlich spätesten Schrift ein Thema in den Mittelpunkt, das sie zeitlebens berührt hat und das die Konstanz ihres Denkens bis hin in ihre letzten Lebensmonate beweist: die Forderung nach menschlicher Versöhnung, mit der wenn nicht in erster Linie, so doch in besonderem Maße die Hoffnung auf einen Ausgleich zwischen den Religionen verbunden war.

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Literarische Werke sind historische Texte, und als solche sollten sie auch zunächst einmal gelesen werden. Die bei Literarhistorikern wie bei Literaturkritikern gleichermaßen beliebte Frage nach der die unmittelbare Entstehungszeit überdauernde Bedeutung eines Werkes zielt im allgemeinen auf die Frage nach der Qualität eines literarischen Werkes, die sich in seiner ›ästhetischen Schönheit‹ oder ›zeitlosen Aussagekraft‹ manifestiere, sie gilt weniger dem Versuch, Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge zu wecken. Mit der Dichtung Else Lasker-Schülers hat die Literaturkritik ganz offensichtlich ihre besonderen Schwierigkeiten: Die Gedichte, die immer wieder zitiert, interpretiert und in Anthologien abgedruckt werden, machen nur eine schmale Auswahl des lyrischen Gesamtwerkes aus; das Interesse an den Prosaschriften bleibt häufig auf die in den Texten überlieferten Anekdoten beschränkt, die Anlaß zu Spekulationen über die Biographie Else Lasker-Schülers geben. So wird beispielsweise die vielleicht zentrale Frage, welche Antwort die Dichterin 1919 in »Der Malik« auf den Ersten Weltkrieg gibt, nur nachrangig gestellt; gelesen wird der Roman im allgemeinen als Zeugnis ihrer Freundschaft mit Franz Marc. Andererseits sind die Ausführungen Else Lasker-Schülers zu Fragen der Zeit nur schwer faßbar und entziehen sich Versuchen, Aussagen von allgemeiner Bedeutung oder Verbindlichkeit abzuleiten. Im Werk Else Lasker-Schülers findet sich kein ›geschlossenes Weltbild‹, allenfalls lassen sich ›Bausteine‹ einer Weltsicht entdecken, wobei der Begriff des ›Bausteins‹ selbst wiederum von der Dichterin vielfältig besetzt wurde: Er erinnert gleichermaßen an den ›göttlichen Baumeister‹, der – einem Kinde gleich – die Welt erschaffen hat, wie an ihren immer ›zwölfjährigen‹ Vater Aaron Schüler, den Erbauer der Türme von Elberfeld. Als besonders sperrig erweisen sich die späten Prosaschriften – dieses vor allem aufgrund der Tatsache, daß vieles, was die Dichterin niedergeschrieben hat, Versuch (Fragment) geblieben ist. Historisch gerecht dürfte man ihren späten Prosaschriften allein dann werden, wenn man sie in den unmittelbaren Kontext stellt, in dem sie entstanden sind.

Gerne zitiert werden Erinnerungen an Else Lasker-Schülers letzte Lebensjahre, in denen die Dichterin als eine seltsame alte Frau erscheint, die – wie Ilka Wilhelm zu berichten weiß – »mit einem kleinen Mädchen auf der Ben-Jehuda-Straße in Jerusalem gesessen [habe], und beide haben mit den Ameisen, die da rumlaufen, gespielt.« Sicherlich nicht ganz schuldlos an dieser Entwicklung dürfte Werner Kraft gewesen sein, der mit der Veröffentlichung seiner eigenen Erinnerungen 1961 im Nachwort zu »Verse und Prosa aus dem Nachlaß« einen gewissen Maßstab gesetzt hat. Breiten Raum nimmt in Krafts Erinnerungen die seelische Zerrüttung ein, die Else Lasker-Schülers Leben in den letzten Jahren geprägt hat. So heißt es: »Oft an der verkehrten Stelle brach sie aus, vor allem gegen den Bürger, und exzedierte gegen ihn, in immer neuen Variationen des Hasses.« Trotz aller Schwierigkeiten, die der persönliche Umgang mit ihr bereitete, wurde Else Lasker-Schüler durchaus ernst genommen. Dieses zeigt vor allem der Erfolg, den sie mit ihrer Vortragsvereinigung »Der Kraal« in Jerusalem verbuchen konnte. Als Vortragende vermochte sie renommierte Zeitgenossen zu gewinnen: Zur Eröffnung sprach Martin Buber, es folgten Schriftsteller, Journalisten und Gelehrte wie Schalom Ben-Chorin, Gershon Swet oder Ernst Simon. Auch über mangelndes Interesse von Seiten der Zuhörer brauchte Else Lasker-Schüler nicht zu klagen: Im Gegenteil, die Räumlichkeiten erwiesen sich meist als zu klein. »Die unbestrittenen Höhepunkte aber waren«, wie Schalom Ben-Schorin in seinen Erinnerungen schreibt, »die Abende der Dichterin selbst.« Sie trug Gedichte und ältere Prosaveröffentlichungen vor und las auch aus Entwürfen der letzten Jahre. Die zahlreichen Überarbeitungen, die Else Lasker-Schülers Manuskripte charakterisieren, erfolgten vermutlich weniger im Hinblick auf eine Drucklegung, sie waren vielmehr für den Vortrag der Texte bestimmt. Manches, was gedruckt, objektiviert in der Form des Buchsatzes, heute befremdlich erscheinen mag, hinterließ bei den Zeitgenossen den Eindruck einer klaren Diktion. Werner Kraft schreibt über Else Lasker-Schülers Vortragsabende:

»Während sie im Alltag ihre Kleidung oft etwas vernachlässigte, war sie an solchen Abenden immer besonders schön und festlich gekleidet und im Gegensatz zu ihrer sonstigen Unbeherrschtheit ganz bei der Sache. Ihr Vorlesen war meisterhaft, frei von allem ekstatischen Wesen und von einer Durchdachtheit, die für jedes Wort die stärkste Wirkung suchte und auch fand […].«

Mit seiner Einschätzung des Vortragsstils steht Werner Kraft nicht allein. Gleichlautend äußert sich Gerson Stern, der nach einer Lesung Else Lasker-Schülers die Dichterin am 30. April 1943 im Tel Aviver »Mitteilungsblatt« als »eine gute Interpretin ihrer Schöpfungen« charakterisiert, der es gelinge, »das Wort in seiner Besonderheit herauszustellen.« Urteile über den Vortragsstil erlauben keine Rückschlüsse auf den Gehalt oder gar die Qualität des schriftlich Fixierten, das uns bei der Beschäftigung mit dem Werk Else Lasker-Schülers allein zur Verfügung steht. (Kleinere Zitate aus den Vorträgen, die in Tagebuchaufzeichnungen der Zeitgenossen überliefert sind, bieten kaum zusätzliche Quellen.) Der Dichterin war es bewußt, daß nicht alles, was sie schriftlich fixierte, auch in sich abgeschlossen und für ein Publikum bestimmt war: So verzichtete sie darauf, bei ihrem Abschied aus Zürich im Frühjahr 1939 ihre »Tagebuchzeilen« zu lesen und schrieb einen eigenen Vortrag. Die Beschäftigung mit den späten Prosaschriften Else Lasker-Schülers, insbesondere mit den Texten, die nur als nachgelassene Schriften überliefert sind, hat als Gegenstand Vorläufiges, noch nicht Abgeschlossenes – Texte, die noch im Werden begriffen waren. Dieses teilen aber die späten Prosaschriften im Grunde mit jeder Art von literarischen Texten, die stets in gesellschaftliche Prozesse eingebettet sind und deren Veröffentlichung zwar eine Zäsur, aber keinen unüberholbaren Abschluß bildet.