Er ist der grüne Heinrich, und alle glauben es, wenn ich das sage. »O ja, er ist der grüne Heinrich.« Seine Augen sind grün, sein Haar ein geschorener grüner Wiesenfleck; seine Eidechsennase – immer schlängelt sie sich. Und sein grüner Primanermund schwellt noch an vor Erwartung. Und seine Seele ist grün und tief, ein heller Schilfteich, man kann daraus Schachtelhalme, Leuchtkäfer, Jesusblumen und gesprenkelte Blätter fürs Herbarium sammeln. In seinem Dachzimmer, ich nehme an, er wohnt mit seinem Lenlein schräg unterm Hutrand des Hauses, leben sicher viel Kreaturen in Gläsern, Kröten, Fische, Quabben – und in Spiritus die Paradiesschlange zu sehen! Und noch lauter Großknabendinge. Lenlein, die Grünheinrichfrau ist eigentlich ein Heiligenmädchen, betet den grünen Heinrich an. Der ist ganz klein, trägt einen Hügel auf dem Rücken, so daß man ihn erst, wenn man mit ihm reden will, besteigen muß und es viel schwieriger fällt, zu ihm zu gelangen wie zu Menschen, die alltäglich in die Höhe, manche nach unten, aufgeschossen sind. Grünheinrichs Mutter hat gerne Märchen gelesen, und ihr Sohn kam in ihrer Traumwelt zur Welt; ihre Augen mögen wie bei Kindern groß geglänzt haben, als auf einmal der grüne Heinrich in ihren Händen lag [10] mit einem Stern in der Schläfe, wie ihn nur Dichtern von Gott selbst verliehen wird. Der grüne Heinrich ist ein Dichter, und seine Gedichte sind große pietätvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn er sie vorträgt.
[11] Peter Hille
»Es dauert höchstens zwanzig Minuten, Peter!« Er nickte lächelnd – aber er vergaß auch sofort wieder, daß er den Kopf nicht hin- und zurückbiegen durfte, von der Zeitung auf und nieder, und so kam’s, daß ich entweder das rechte oder das linke Auge nicht an seinem Platz oder die Nase zu lang im Verhältnis zur Stirn zeichnete. Und manchmal nahm er noch seinen Bleistift und beschrieb andächtig den weißen Rand des Zeitungsblattes.
»Du kannst gleich weiterzeichnen, schrecklicher Tyrann du!« sagte er und las mühsam entziffernd sein eigenes Schreiben. Es waren einige steinige Einfälle, die er seinem Myrdin und seiner Viviane ferner vermachen wollte. Und er zog die große vergilbte Papierrolle aus seiner Manteltasche und las von den beiden Menschen, die älter waren als Adam und Eva, von seinem Menschenpaar Myrdin und Viviane. Die sprachen eine Sprache, mit der am ersten Schöpfungstage sich Himmel und Erde erzählten – – sie waren mit der Erde zugleich erschaffen – gewachsen mit der Erde – aus der Erde; ja, das fand auch Peter … »Da magst du recht haben!«
Und er saß, den Kopf herabgesenkt auf den großen Lehnstuhl [12] nahe dem Ofen in seinem olivenfarbigen Mantel, als ob er die Wärme mit sich nach Hause nehmen wollte.
Eines Abends klingelte es um halber Mitternacht – das sah Peter ähnlich. Seine Augen lachten mutwillig wie Knabenaugen, die einen Streich hinter sich hatten. »Der Verleger hat mir Vorschuß gegeben – Tino, toller Kerl, komm mit! Wir sitzen alle in der Weinrebe.«
Und Peter sah aus wie ein Bacchus, seine Seele war aufgeblüht wie einer der Weinberge in Alt-Athen. Und wir saßen um ihn im Kreise und sangen: fahrende Schüler, wie die Jünger des Weins aus der bacchantischen Szene seines Werkes »Des Platonikers Sohn«. Wir waren der Most, der Lenz des Weines, das Leben, das wildsüße Auf- und Niederbrausen.
»O Wein, du lieber, dummer Wein,
Was willst du da im Kerker sein?
Hervor du rieselnde Sonne,
Und laß die alberne Tonne.
Weißt du denn nicht, du dummer Wein,
Bin Bruder Lustig, frisch vom Rhein,
Ein Kenner erlesener Tropfen,
So laß mich nicht harren und klopfen!«
Am Morgen in meinem Halbschlaf sah ich Peter; durch seinen langen Bart guckten blaue und gelbe Weinaugen mutwilliger kleiner Dionysinnen mit roten Pausbäckchen und kecker Faunbuben mit frechen Schwänzchen. Und die [13] neckten ihn und zupften ihn an seinen langen Kraushaaren, jauchzten und sprangen um den großen Bacchus, und ein ganz kleines, ängstliches Bacchüschen kroch in seine weite, weite Ohrmuschel. Und wir alle saßen zu seinen Füßen, und er erzählte von seiner Frühjugend, von seinen vielen Liebchen – ja, ja, Bacchus mußte verliebt sein!
*
Einmal an einem Wintermorgen kam Hugo, der Landsknecht, wie ihn Peter seines rauhen Organs und seiner kecken Launen wegen nannte. »Kommen Sie mit, Prinzessin! Peter ist krank, wir wollen ihn besuchen.« »Und wissen Sie auch, Hugo, daß heute sein Geburtstag ist?« Davon wußte er nichts, der Ungläubige. Und wir zogen gen Norden, und als wir durch das Tor seines Hauses traten, lagen vor uns Treppen, zu besteigen wie künstliche Gebirge aus Brettern. »Na, det is man scheene, dat Se sich bis her verstiegen han – – denken Se so wat, er is mir jestern dot in de Arme jeblieben! …« Und Peters gemütliche Wirtin drückte mich an ihren Busen, aus dem der dicke Atem jammerte. Und sie geleitete uns durch die Küche bis an Peters Kammertür, drückte diese behutsam auf und blickte zunächst vorsichtig durch die Spalte. »Nu kommen Se sachte rin!« – – Und da lag der Peter wirklich in seinem Nest halb aufgerichtet: ein kranker grimmiger Geier. Der Kragen seines Mantels hing wie ein dunkler Fittich über dem Bettgestell, und einer der [14] Füße, mit dem Stiefel angetan, scharrte ungeduldig an der senfgelben tapezierten Wand. Als er uns sah, war es, als ob er uns nach und nach erst erkannte, und er fuhr durch seinen Bart wie ein reißender Herbststurm. »Setzt euch, wenn ihr Platz findet, ihr Einbrecher, ihr Störenfriede, setzt euch!« Aber nicht allein der Boden, sondern auch das tausendjährige Sofa war begraben unter großen, gelben Papierflocken. Wir setzten uns auf das kleine Fensterbrett und stellten unsere Füße sündhaft auf die gefüllten Säcke, die, wie wir später hörten, die Manuskripte der Dramen Peters enthielten. »Du, Peter, ich will dir den Doktor holen«, sagte der Landsknecht besorgt. Oh, und das klang so lächerlich, und die dicke Wirtin hatte et och jewollt, »er will aber nich.« »Der Doktor soll mir wohl Sonne oder Mairegen für meinen Katarrh verschreiben?« Und Peter lächelte wieder wie Frühlingsanfang, und auf einmal begann er laut zu reden: »Heute abend muß ich noch ins Theater.« Da fiel seine alte dicke Wirtin vor Schreck auf das tausendjährige Sofa. »Sie wollen im Thiater jehn, Sie?« »Na gewiß«, antwortete Peter und machte die Bewegung, aus dem Nest zu fliegen. In der Küche seufzte die Gute und meinte: »Na, so nötig hat er det Schreiben doch ooch nich, wo er bei uns is!« Und sie brachte ihm zur Fürsorge die dampfende Hafergrütze und zwei Schmalzstullen ins Zimmer. Und dann sich vor uns entschuldigend, sagte sie: »Er ist so reene wie eene Jungfer, ick seh schon, wie se ihm später in de Kirche uffbahren als Heiligen.«
[15] Es war ein kalter Nachmittag; der Mond blähte sich auf zwischen seinen Sternen wie ein goldener Bauch, ein wohlbeleibter Dukatenmillionär. Peter und ich wanderten wohl schon stundenlang durch die Straßen Berlins, durch die Bleiluftgegenden mit den kahlen, grauen Häusern, in denen der Hunger mit seinen tausenden Kindern wohnt. Und über dieser Gegend spazierte behaglich durch das weite Land der Wolken der fette Mond, der satt an Gold getrunkene Mond. »Aber, Tino, ich wußte ja gar nicht, daß du ein kleiner Bebel bist.« »Ja, ich denke an die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an dich, Peter, an dich, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist.« »O du Fromme«, sagte Peter leise zu mir. Nach einer Weile blieb er unter einer Laterne stehen, nahm ein kleines schwarzes Heftchen aus der großen Manteltasche und schrieb.
Das tat er oft, und ich ging gemächlich des Weges weiter. Wir kamen über einen großen Platz. Vielleicht gaben die schloßartigen Bauten mit den gegossenen Toren, die eisernen Hüter der königlichen Gärten, Peter den Anlaß, mir zu erzählen, daß sein Vater der Fürst S. aus Westfalen sei und seine Mutter eine Leibeigene. Ich war gar nicht verwundert darüber, als ich seine schlanken Hände betrachtete.
»Meine Mutter«, erzählte er weiter, »war eine stille, blasse Frau. Ich kann mich kaum an den Ton ihrer [16] Stimme erinnern; aber als ich meine ›Brautseele‹ dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen, sanft und dann sehnsuchtswild, wie eine einsame Spätherbstblume.« Wir schwiegen beide lange Zeit, über Erinnerungen wandelnd, bis es Abend läutete und die Glocken uns erweckten.
Wir fragten einen Mann, der an uns vorübereilte: »Wie kommen wir aus dem Tiergarten wieder auf die Straße?« Und wir bogen und wendeten uns, bis wir glücklich den Weg wiederfanden. »Sieh, Tino, hier tief im Dickicht habe ich Wochen zugebracht und Dunkelheiten getrunken! Oh, das waren einzige Gottnächte!«
Aber ich sah schmerzlich auf seine eingefallenen Wangen.
*
Ich ging, meiner Ahnung vertrauend, voraus. Peter studierte indessen noch die Hausnummern gegenüber dem großen Gebäude, in das ich eintrat. Und wirklich, hier wohnte Gerhart Hauptmann. Er kam mir schon im Treppenflur entgegen, ja, er war es. »Herr Hauptmann, ich bringe Ihnen den Peter Hille lebendig hier; er hätte sicherlich wieder die verabredete Stunde versäumt.« »Sah ihn schon von meinem Fenster aus«, rief Gerhart Hauptmann, »und komme, den Peter selbst heraufzuholen.« Und der Herrliche sagte zu Hauptmann, mir schelmisch zunickend, »dies ist mein Kamerad, Tino nenne ich sie. [17] Es ist der Name ihres Blutes, die grünrote Ausstrahlung ihrer Seele.« Wir setzten uns, nachdem Hauptmann zärtlich den Mantel von Peter Hilles Schulter genommen hatte. Auf den Tischen lagen überall Journale, die meines Propheten Dichtungen enthielten, auch des Platonikers Sohn fehlte nicht, das wundergroße Schauspiel. Hauptmann schwang es triumphierend in die Höhe. Und ich hörte lauter Melodien; der Dichter Worte wurden Lieder. Und Hauptmanns stolzes Gesicht neigte sich seinem hohen Gaste zu, die Quelle seines Herzens zu erreichen, denn wie aus Leben gehauen saß Peter Hille in dem weiten, klaren Raum, sein Bart wallte ungeheuer.
[18] Karl Kraus
Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet – – in meinen Heimatjahren, beim Betrachten der kostbaren Zeilen unter Glas im goldenen Rahmen. Den Brief hatte ein Bischof geschrieben an meiner Mutter Mutter, ein Dichter. Blau und mild waren seine Augen, und sanftbewegt seine schmalen Lippen und sein Stirnschatz wohlbewahrt, wie bei Karl Kraus; der trägt frauenhaft das Haar über die Stirn gekämmt. Und immer empfangen seine Augen wie des Priesterdichters Augen gastlich den Träumenden. Immer schenken Karl Kraus’ Augen Audienz. Ich sitze so gerne neben ihm, ich denke dann an die Zeit, da ich den Schreiber des Briefes hinter Glas aus seinem goldenen Rahmen beschwor. Heute spricht er mit mir. Ich bewundere die goldgelbe Blume über seinem Herzen, die er mir mit feierlicher Höflichkeit überreicht. Ich glaube, sie war bestimmt für eine blonde Lady; als sie an unseren Tisch trat, begannen seine Lippen zu spielen. Karl Kraus kennt die Frauen, er beschaut [19] durch sie zum Denkvertreib die Welt. Bunte Gläser, ob sie fein getönt oder vom einfachsten Farbenblut sind, behutsam behütend, feiert er die Frau. Verkündet er auch ihre Schäden dem Leser seiner Aphorismen – wie der wahre Don Juan, der nicht ohne Frauen leben kann, sie darum haßt – im Grunde aber nur die Eine sucht. Ich begegne Karl Kraus am liebsten unter »kriegsberatenen Männern«. Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater, gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über den Raum – Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde, o, plastischer noch, denn alle seine Werke treten hervor, Reliefs in der Haut des Vorgangs. Er bohrt Höhlen in den Samt des Vorhangs, der die Schäden verschleiert schwer. Es ist geschmacklos, einen Papst zu hassen, weil sein Raunen Flüsternde stört, weil sein Wetterleuchten Kerzenflackernden heimleuchtet. Karl Kraus ist ein Papst. Von seiner Gerechtigkeit bekommt der Salon Frost, die Gesellschaft Unlustseuche.
Ich liebe Karl Kraus, ich liebe diese Päpste, die aus dem Zusammenhang getreten sind, auf ihrem Stuhl sitzen, ihre abgestreifte Schar, flucht und sucht sie. – Männer und Jünglinge schleichen um seinen Beichtstuhl und beraten [20] heimlich, wie sie den grandiosen Zynismusschädel zu Zucker reiben können. O, diese Not, heute rot – – morgen tot! Unentwendbar inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges, überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit dem die Welt zugenagelt ist.
[21] Doktor Benn
Er steigt hinunter ins Gewölbe seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf. Ein Nimmersatt, sich zu bereichern an Geheimnis. Er sagt: »tot ist tot«. Dennoch fromm im Nichtglauben liebt er die Häuser der Gebete, träumende Altäre, Augen, die von fern kommen. Er ist ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzenhaupt, mit der Habichtnase und dem Leopardenherzen. Sein Herz ist fellgefleckt und gestreckt. Er liebt Fell und er liebt Met und die großen Böcke, die am Waldfeuer gebraten wurden. Ich sagte einmal zu ihm, Sie sind allerleiherb, lauter Fels, rauhe Ebene, auch Waldfrieden, und Bucheckern und Strauch und Rotrotdorn und Kastanien im Schatten und Goldlaub, braune Blätter und Rohr. Oder Sie sind Erde mit Wurzeln und Jagd und Höhenrauch und Löwenzahn und Brennesseln und Donner. Er steht unentwegt, wankt nie, trägt das Dach einer Welt auf dem Rücken. Wenn ich mich vertanzt habe, weiß ich nicht, wo ich hin soll, dann wollte ich, ich wäre ein grauer Samtmaulwurf und würfe seine Achselhöhle auf und vergrübe mich in ihr. Eine Mücke bin ich und spiele immerzu vor seinem Angesicht. Aber eine Biene möcht ich sein, dann schwirrte ich um seinen Nabel. Lang bevor ich ihn kannte, war [22] ich seine Leserin; sein Gedichtbuch – Morgue – lag auf meiner Decke: Grauenvolle Kunstwunder, Todesträumerei, die Kontur annahm. Leiden reißen ihre Rachen auf und verstummen, Kirchhöfe wandeln in die Krankensäle und pflanzen sich vor die Betten der Schmerzensreichen an. Die kindtragenden Frauen hört man schreien aus den Kreissälen bis ans Ende der Welt. Jeder seiner Verse ein Leopardbiß, ein Wildtiersprung. Der Knochen ist sein Griffel, mit dem er das Wort auferweckt.
[23] Fritz Huf
In Frankfurt am Main saßen wir uns gegenüber beim Maler Starke. Nach dem Abendschmaus boxten wir uns. Er trug, seiner holländischen Freundin zuliebe, Sackhosen wie die Fischer im Hafen von Rotterdam, ich meinen Arbeiterkittel. In der Frühe saß ich ihm zu meinem Tonbild, aus mir den thebetanischen Prinzen zu holen, steinhart, unentwegt, souverän, fromm, Sternsichel auf der Stirn. Wir sprachen nie, feierten diese Sitzungen. Doch einmal sagte einer von uns beiden: Kunst ist der Zustand nach dem Tode. Der andere von uns antwortete da: Oder vor dem Leben.
Dann kamen von Ober-Ursel ein paar große Kunstkenner, seine neuesten Werke zu betrachten und ihn, den Bildhauer selbst. Die Hände in den weiten Taschen. Braun glänzten seine Augen wie Herzkirschen. Und seine kindliche Freude über jedes Lob! »Herr Professor, essen Sie Mohrrüben, Mohrrüben; ganz Indien hat keinen Wurm mehr seitdem.« Jedem Abschiednehmenden reichte er mit auf den Weg ein Buch von seinem weisen Indier und Fakir Mazdaznan.
Nun wohnt Fritz Huf in Berlin schon zwei Jahre. In seinem Atelier stehen, nicht mehr aus Ton oder Terrakotta, [24] schlanke Rosenweiber oder heilige Dreimädchengestalt und dazwischen mein prinzliches Gebild. Hufs wundervolles Spiel wurde bewußte, starke Arbeit; er selbst ein Kind, wurde Geschöpf. Fritz Huf ist ein Geschöpf, das nicht wandelbar ist, aber das sich verwandeln kann. Seine Kunst ist ein Gorilla, der ist nicht heiter, aber bösgreifend wie das Leben. Mitleidslos reißt er an dem Stein, daß der Fleisch werde, und verzaubert den Menschen zu Stein. Auf einem breiten Block steht Wegeners Kopf: kecke Wucht, Böser Fastnacht. Die blonde Frau mit den Tigeraugen und den süßherben Brombeerlippen ist die dichtende Fürstin Mechthild Lichnowsky. »Und hier«, erklärt mir Fritz Huf geheimnisvoll, »der ist ein großer Arzt.« Und da – der Kopf des Doktor Blei hinter dem Vorhang wirkt: Reptil aus grausam grauem Glas.
Gestern schrieb ich Fritz Huf: Gorilla vom Rütli (er ist nämlich Schweizer), kommen Sie hierher ans Meer, hauen Sie mir ein steinernes Etui für dies unendliche, rauschende Perlengeschmeide.
Immer Ihr Prinz
[25] Fritz Wolff
Ich schrieb einmal aus der Ferne an den Zeichner: Sie und ihre Frau behalten immer eine Silberquaste meiner blauen Seele in der Hand zurück und darum bin ich nie ganz und gar abwesend aus Berlin, wenn ich längst die Stadt verlassen habe. – Sonntags kommt manchmal auch der dänische Märchenerzähler zu Wolffs – nur seinen Namen kann ich nicht behalten. Aber über unserm Beisammensein hängt eine nickendtickende Uhrgroßmutter; zu jeder Stunde schenkt sie uns ihren tieftönenden einlullenden Segen. Ich bin dann plötzlich ganz klein, wir vier werden Kinder – lauschen … und unsere Gedanken springen sorglos über die Geleise des Alltags. Wir spielen den Ulk aus Fritz Wolffs farbigen Bilderbogen, die hinter den Ladenfenstern auf die Straße lachen. Und wenn nicht »das Mädchen«, wie der Fritz Wolff seine Frau nennt, uns hinterrücks mit einem riesenrosinenknusperigen Kriegskuchen überfiel, den wir bewältigen müssen, so würden wir selbst nicht an diese »süße« Wirklichkeit erinnert werden. Die himmelhelle und die grassaftig angestrichene Stube tragen Schmachtlöckchen, und im dritten Stübchen, darin viel und weißgeblümter Battist rauscht, hängt sein Selbstbildnis im Rosenrahmen zwischen Fritz Wolffs lächelnder Ahnin und ihrem wohllöblichen [26] Vetter aus Alt-Berlin im Bratenrock und steifem Vatermörder. Aber auf einem Wandtischchen stehen aus buntem Schaumzucker ein paar heilige Tiere: das Lamm trägt ein Glöckchen um den leckeren Hals und ist besonders fromm und altmodisch immer neu für meinen verehrten Fritz Wolff und sein gutes Mädchen gebacken. Auch meine Freude für allerlei Tand teilen meine beiden liebsten Menschen in Berlin, und wir bringen uns auserlesene Spielereien mit von Reisen aus großäugigen Welten. Dieses Glück haben wir uns auch im Kriege zu bewahren gewußt, wenn auch unser Zeichner Fritz Wolff fern auf hartem Boden im Osten Soldatenbilder zeichnete und die Köpfe vieler Generäle und Obersten der Schlachten. Die Spitze seines Stifts taucht er in sein feines, künstlerisches Blut, so daß seine Zeichnungen wie auf Seide gezeichnet wirken. Irgendwo aber in seinem übervollen Herzen sitzt ein Schelm auf einem schwanzausgerissenen Steckenpferdchen über alle steife Zeremonie hinweg wie die Maxmoritzschlingel, deren Streiche er so schön zu illustrieren versteht.
Bevor wir Abschied nehmen für diese Woche, muß der – Andersen der – Texière noch die Geschichte der Eidechse und der Prinzessin vortragen. Und dann »hinaus mit uns zwei in die Nacht!«
[27] Rudolf Schmied
In seinem Knabenbuch »Carlos und Nicolà« namentlich der Nicolà sieht ihm auf ein Haar ähnlich. Also ganz genaue der Nicolà ist der Rudolf Schmied selbst. Ich höre ihn im alten Café des Westens und in München im Stephanie ebenso argentinisch sprechen wie in seinem Buch die beiden Knaben, die man herzen möchte, so lieb hat man die. Rudolf Schmied ist aus Argentinien, er spricht, wenn es auch Deutsch ist, immer spanisch, ganz wild spanisch. Und dazu raucht er eine Zigarette nach der anderen; seine Augen, seine Nase, sein feiner Mund spielen im Gesicht. Ein Zuruf – und Rudolf Schmied jagt auf seinen Gedanken, lauter Indianerpferde, losgelassen, über die Herzen der Freunde hinweg; frisch und frei ist er, seine Seele trägt einen bunten Federschmuck. Als Knabe nannte er sich, erzählte er mir, den roten Jaguar. Damals lebte er noch in seiner Heimat in Argentinien und war der kleine Nicolà, der er geblieben ist. Sein Buch ist ein Kunstwerk, das sich »ewig« erhalten wird, immer werden all die Süßigkeiten frisch bleiben. Er hat das Buch mit altem Wein geschrieben. Rudolf Schmied ist aus edlem Geschlecht, er ist ein aristokratischer Boheme, er hat Kultur und herrliche Laune, lauter erfrischende Sturzbäche überstürzen sich in seinem Roman [28] »Carlos und Nicolà«. Die beiden kleinen Helden seines Buches sind selbst zwei helläugige Mississippis. Mein Junge, der ein Freund der Indianer ist, hat Rudolf Schmied gezeichnet, wie er so dasitzt und von sich wundervoll erzählt.
[29] Doktor Magnus Hirschfeld
(Ein offener Brief an die Züricher Studenten)
Frischverehrte Herren Studenten!
Am Donnerstag, 11. Juli, werden Sie im Schwurgerichtssaal Herrn Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld in Zürich sprechen hören; Sie können sich auf den Abend freuen. Ich will Ihnen etwas von unserem Doktor in Berlin erzählen. Er ist nicht allein unser Arzt, er ist auch unser Gastgeber; seine Sprechstunden enden in beaux jours, die Kranken vergessen ihre Nerven und dem gesunden Patienten bedeutet der Nachmittag in den freudigen Wartezimmern angenehme Nervenanregung. – Mitten im Tiergarten zwischen starken Kastanienbäumen und hingehauchten Akazien wohnt Sanitätsrat Doktor Magnus Hirschfeld. Er mag nicht, daß wir ihn so titulieren. »Kinder, ich höre lieber einfach ›Doktor‹.« Trotzdem er mir gestand, daß ihn die Ernennung zum Sanitätsrat zu seinem fünfzigjährigen Geburtstag, in Anbelang seiner Ausnahmestellung unter den Ärzten viel bekämpft und bestritten, doch erfreut habe. Er zeigte mir strahlend wie ein Kind alle Geschenke. Wir nennen ihn unsern Doktor. Am Vorabend seines Wiegenfestes brachten ich und meine Spielgefährten unserm Doktor ein auserlesenes [30] Ständchen. Der Wiegenfestliche betrat gerührt seinen Balkon, ließ sich besingen von unsern Liedern zur Harmonika und Trommel. Schluß-Choral: »Ich schnitt es gern in alle Brotrinden ein« … Unsere Ausgelassenheit amüsiert ihn, denn Doktor Hirschfeld versteht Ulk, da er ernst ist, kein ernsthafter Professor etwa im Eichenlaubbart. Nun muß ich, liebe Herren Studenten, Ihnen zu meiner Schande gestehen, daß ich von den vielen berühmten Büchern, die der Doktor geschrieben hat (ich lese prinzipiell nur meine), keines kenne, aber dennoch sie aus seinen unvergleichlichen interessanten Vorträgen beurteilen kann, spannende medizinische, historische Romane, die nie zu Schmöckern vergilben, als Maßgebenheiten bestehen bleiben. Doktor Hirschfeld ist der Bejaher jeder aufrichtigen Liebe, ein Abgewandter jeglichen Hasses. Ein milder Gerichtsarzt, der alles zu verstehen sucht. – Voll Mitleid opfert er seine Kraft, seine Zeit, sein gutes Herz dem scheidenden Soldaten. An den Bahnhöfen sieht man unsern Doktor oft, ganze Tabaksplantagen anpflanzend, aus etlichen Kisten Zigarren und Zigaretten an abschiednehmende Feldgraue verteilen. Er ist der Mensch, der wahrhaft in der Bereitwilligkeit keinen Klassenunterschied kennt. Wer ihn ruft, zu dem eilt er. Ich überfiel ihn selbst, mit Erfolg, mir zu einem verwundeten Freund in Pommern zu folgen, aus seiner großen Praxis. – Liebe Herren Studenten, mich freut es, unserm Doktor Hirschfeld Lob und Preis zu singen. Wenn er nicht in Berlin weilt, fehlt sozusagen unser [31] Beichtvater. Wir sehnen uns alle nach seinem Trostwort, nach den gemütlichen gemütvollen grünen Zimmern, sie sind heilbringend wie er selbst.
[32] Loos
Von der Seite betrachtet, erinnert sein Kopf an den Totenschädel eines Gorillas; wendet mir Loos langsam das Gesicht zu, prüfen mich scharf des Gorillas runde, hellbraune Augen. Die sind gefährlich, greifen aus einem andern Denken, aus einem fremden, geschwinden Grund. Die Blicke der Gäste strafen mich für meinen Ausspruch, Loos selbst aber scheint nichts gehört zu haben. Ist er schwerhörig? Auf mich wirkt sein Unvernehmen geisterhaft, wundersam wund; für den unverstandenen Sprecher – unverständlich. Senkt Loos den Kopf, neigen sich seinem Ohre die Lippen zu; o, wie sanft er die Lider hängen läßt – man hat ihn dann lieb, die Lotosseele unter den Gorillen. Schielende, deren Züge etwas Rührendes erhalten, und Hinkende, die im verlorenen Gleichgang süße Interessantheit hinschaukeln – zehnfach tönt Loos das Wort wieder, ruft man es in ihn hinein. Dann wird er ein reißender Geist, den man im Echo heraufbeschwor, ein affenböser Künstler, reißt er dem die Perücke vom Kopf, setzt ihm den Skalp wieder an, daß er mit seiner Person vernarbe. Ein handgreiflicher Philosoph ist er, dem die Verschnörkelung der Architektur ein eitler Greuel, ein verwirrtes Knäuel ist, den er rücksichtslos löst. Loos will Ordnung schaffen in den Welten [33] hier unten, in der Welt, die sich der von sich abstrebende Mensch erschaffen läßt vom Architektenmenschen und nicht hineinpaßt. Wie viele sitzen und schwitzen in fremden vier Häuten, denn die Wände unseres Gemaches sollen unser passendstes Kleid sein, sie sollen die Schrift unseres Atems tragen. Die Seuche der Einrichtung hat sich schon in die Schlösser der Fürsten begeben, auf Altären liegen »stilvolle« Decken, und durch die Tempel der Künstler flutet das elektrische Licht der Birnen aus neuerfundenen Kelchen. Wollte man mir sogar auf den Rücken meines Zigeunerkarrens, meines grünen Holzvogels, die sogenannte aufsteigende Kurve (ich weiß gar nicht, was das ist) und langweilige kühle Linien ziehen, die große Klassikerlinie Weimarer Spätgeburt van de Veldisch architektiert. Man sehnt sich rein nach dem Buckel. Die Wände meiner Rast sind auch die Wände meiner Last, sind mit mir verwachsen, aufgewachsen. Meine Behausung gleicht mir auf ein Haar. Darum springe ich gerne aus meiner Haut mal, am liebsten in das mir vermählte Zimmer. Ist sein Bewohner auch meist nicht in seiner Hauptperson anwesend, sein Heim aber spricht für ihn. Kühlritterblau empfängt mich das Tapetengesicht; ich setze mich vor den Schreibtisch, vor Rhodopes farbige Statuette, meines auserwählten Zimmers heimliche Liebe. Über den Flügeldeckel kehren Lieder heim und legen sich auf die Tasten – schlummern und träumen laut; hingezaubert sitzt ja ihr Schöpfer auf dem runden Stuhl und spielt. Ich denke an meine Prinzessinnenzeit [34] … Wer salbt meine toten Paläste, sie trugen alle die Kronen meiner Väter. – Ich hasse die Tische, Stühle, Sessel und so weiter, die sich verkuppeln ließen, mit ihrem Plebejerbesitzer; das sind Mesallianzen, Sessel, deren Lehne sich beugte immer tiefer ihrem Sitz zu. Ich denke an einen wie ein Melancholischer. – Ich helfe dir räumen, Loos, aber wehe dir, wenn ich nach Wien komme, und du sitzt nicht auf einem australischen Urwaldast zurückgezogen hinter Gedanken tausendgitterig.
[35] Oskar Kokoschka
Wir schreiten sofort durch den großen in den kleinen Zeichensaal, einen Zwinger von Bärinnen, tappischtänzelnde Weibskörper aus einem altgermanischen Festzuge; Met fließt unter ihren Fellhäuten. Mein Begleiter flüchtet in den großen Saal zurück, er ist ein Troubadour; die Herzogin von Montesquio Rohan ist lauschender nach seinem Liede als das Bärenweib auf plumpen Knollensohlen. Denn Treibhauswunder sind Kokoschkas Prinzessinnen, man kann ihre feinen Staub- und Raubfäden zählen. Blutsaugende Pflanzlichkeiten alle seine atmenden Schöpfungen; ihre erschütternde Ähnlichkeitswahrheit verschleiert ein Duft, aus Höflichkeit gewonnen. Warum denke ich plötzlich an Klimt? Er ist Botaniker, Kokoschka Pflanzer. Wo Klimt pflückt, gräbt Kokoschka die Wurzel aus – wo Klimt den Menschen entfaltet, gedeiht eine Farm Geschöpfe aus Kokoschkas Farben. Ich schaudere vor den rissig gewordenen spitzen Fangzähnen dort im bläulichen Fleisch des Greisenmundes; aber auf dem Bilde der lachende Italiener zerrt gierig am Genuß des prangenden Lebens. Kokoschka wie Klimt oder Klimt wie Kokoschka sehen und säen das Tier im Menschen und ernten es nach ihrer Farbe. Liebesmüde läßt die Dame den schmeichelnden Leib aus grausamen [36] Träumen zur Erde gleiten, immer wird sie sanft auf ihren rosenweißen Krallen fallen. Das Gerippe der männlichen Hand gegenüber dem Frauenbilde ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai-Lamas Haupt. Auch den bekannten Wiener Architekten erkenne ich am Lauschen seiner bösen Gorillenpupillen und seiner stummen Affengeschwindigkeit wieder, ein Tanz ohne Musik. Mein Begleiter weist mit einer Troubadourgeste auf meinen blonden Hamlet; in ironischer Kriegshaltung kämpft Herwarth Walden gegen den kargen argen Geist. Auf allen Bildern Kokoschkas steht ein Strahl. Aus der Schwermutfarbe des Bethlehemhimmels reichen zwei Marienhände das Kind. Viele Wolken und Sonnen und Welten nahen, Blau tritt aus Blau. Der Schnee brennt auf seiner Schneelandschaft. Sie ist ehrwürdig wie eine Jubiläumsvergangenheit: Dürer, Grünewald.
Oskar Kokoschka ist eine junge Priestergestalt, himmelnd seine blauerfüllten Augen und zögernd und hochmütig. Er berührt die Menschen wie Dinge und stellt sie, barmherzige Figürchen, lächelnd auf seine Hand. Immer sehe ich ihn wie durch eine Lupe, ich glaube, er ist ein Riese. Breite Schultern ruhen auf seinem schlanken Stamm, seine doppelt gewölbte Stirn denkt zweifach. Ein schweigender Hindu, erwählt und geweiht – seine Zunge ungelöst.
[37] Peter Baum
Er versäumt den Tag, und die Dunkelheit erreicht er, wenn es zu spät ist. Aber er träumt noch schnell unter dem verschwindenden Mond. Einmal kam Peter Baum barhäuptig im Januar ins Theater gegangen, draußen waren 15 Grad Zerfahrenheit. Einmal steckte er seine brennende Zigarre in die Hosentasche, später meinte Peter Baum – daß es nicht die Kartoffeln auf dem Feld gegenüber wären, aber daß seine Lende versenge. Und doch hat St. Peter Hille einmal gesagt: Peter Baum sei der sensibelste Mensch, den er je kennen gelernt habe. Peter Baum ist ganz blau. Das heißt übersetzt: Er ist ein Dichter. Sternenpsalme hat er gedichtet für die Harfe Davids, für das Herz Salomos, des Dichterkönigs von Juda. Und doch ist Peter Baum der leibliche Sohn und Erbe des Evangeliums. Seine Väter waren die Herren von Elberfeld im Wupper-Muckertale. Sie beteten zu Luther und wachten auf in Sonntagsfrühe beim ersten Schrei des Kirchenhahns. Manchmal erscheinen sie ihrem Urenkel im Schlafe, weniger der jüdischen Psalme, aber seines abtrünnigen Romans »Spuk« wegen. Es ist ein Roman im Kaleidoskop; die Bilder kommen buntartig und schwinden blendend wie teuflische Spiegel. Ein flackerndes Fleckenspiel hinter geschlossenen [38] Augen. O, und seine wundervollen Novellen »Im alten Schloß« brachte er mir eines Abends; seine große Tannengestalt erschien mir noch eine Krone höher, so aufwärts wie der Graf seines Buches, ein wetternder Weihnachtsbaum, der seinen Schmuck abgeschüttelt hat. Die Wochenschrift »Sturm« wird Peter Baums neuestes Werk bringen, das spielt zur Rokokozeit und ist in geblümter Seidensprache geschrieben. Wie tief seine Dichtungen doch ihn erleben und er sich an ihnen verwandelt!
[39] Unser Rechtsanwalt Hugo Caro
Er kam immer im letzten Augenblick, auch zum Termin, wie jemand, der noch in den sich fortbewegenden Zug springt. Wie oft gingen wir zur Verhandlung ins Kriminalgericht, den Rechtsanwalt Caro verteidigen zu hören. Unseren lieben, frohen Rechtsanwalt, der uns immer wieder durch seinen Frohsinn aufrichtete, abends im Café des Westens. Er gönnte sich dort Rast zwischen Künstlern, bis er von irgend einem Hilfesuchenden gefaßt, um Rat gefragt wurde. Für Jeden hatte unser Rechtsanwalt ein liebenswürdiges Verständnis. Er betrachtete das Café des Westens als den Garten unter den Straßen Berlins, darin man ausruhe, ohne den Zusammenhang mit der Übrigkeit zu verlieren, mit all den Menschen, deren Geschicke er führe. Er war der, welcher ohne zu erschaffen, die Kunst hoch und liebend achtete; vielleicht erlangte er doch selbst das Glücksgefühl des Schaffenden in der Ausführung seines verantwortlichen Amtes: dem frischen Aufbau seiner Verteidigungsreden, oft in Berliner Dialekt gehalten, sicher anzunehmen. Er war der Fritz Reuter unter den Juristen.
In seinem Hause fiel von dem Eintretenden die Fremdnis der großen Hauptstadtangst. Wie oft plauderten der [40] Rechtsanwalt, seine wunderschöne Frau und ich bis spät in die Mondnacht vertraulich dreieinander … Der Krieg brach aus, Rechtsanwalt Caro meldete sich freiwillig; er liebte Berlin, es war seine Wiege, seine Primanerliebe, sein Berlin trug seine rote Studentenmütze. Er war eben der fahrende Schüler geblieben, sang seine Maienlieder, wenn er nach anstrengender Arbeit zwischen uns ausruhte: »Und laßt uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai«. Unser Rechtsanwalt war immer guter Laune, auch als er eines Abends in Uniform schwer ermattet vom Marsche unter uns Freunde trat; wir erkannten ihn nicht, seine straffen Haare waren abrasiert, vor seinen Augen trug er eine mächtige Hornbrille. Die jungen Soldaten seiner Kompagnie nannten ihn: Vater Justizrat. Weil er so gütig zu ihnen sprach, sie ermutigte. In seiner kleinen Bureauwohnung in der Nürnberger-Straße pflegte der Rechtsanwalt, bevor er in Herrgottsfrühe nach Döberitz zum Dienst eilte, sich seinen Tee zu brauen; Müdigkeit übermannte ihn, ein kleiner, listiger Zugwind löschte die Flamme unter dem brodelnden Wasser, und unser lebensfroher Rechtsanwalt erstickte.
[41] S. Lublinski
S. Lublinski ist von Geburt Ostpreuße. Er hat mir oft von seiner Heimat erzählt: dort sind noch die Wälder so finster und verwachsen wie kleine Urwälder. Zwischen knolligen Wurzeln und Stämmen ist sein Nest; knollig ist auch er an Leib und Seele, ein Knollengewächs, aus dem jäh eine leuchtende Blüte aufsteigt. Zusammengekauert in seinem Korbstuhl sitzt er, wie in einem großen Pflanzenkübel, und grübelt, ob er den Entschluß, den er zunächst erst in einiger Perspektive wohlwollend betrachtet, wirklich fassen soll oder nicht … Wir beide haben manchen Abend bei schweigender Dunkelheit zusammen auf der Veranda des Kaffeehauses gesessen. Die Gäste sehen nach der Richtung unseres Tisches und lachen über das Holpern seiner Stimme; jedoch die Kellner, vom allerdicksten bis zum blaßwangigen Groom, haben sich schon an die eigentümliche, stoßende Hornsprache S. Lublinskis gewöhnt; sie harren aufmerksam seinem Wink und entreißen raubtierartig den lesenden Gästen Journale und Zeitschriften, die er verlangt. S. Lublinski schiebt seine Brille vorsichtig höher auf den Nasenrücken – der kleine Literat und der phlegmatische Baccalaureus-Referendarius nähern sich unserm Tisch. Mit außergewöhnlicher, liebenswürdiger Handgebärde fordert er die beiden [42] jugendlichen Opfer auf, sich an unsrer Seite niederzulassen. Ich weiß: S. Lublinski ist in Kampfstimmung, er hat tagsüber Aufsätze schreiben müssen, und ihn ärgert die Erde mit den vielen Tintenfässern; und ohne jede Veranlassung, oder auf eine geringfügige Bemerkung hin, überfällt er den Nachbar – sein Herz jedoch schlägt Kobolz dazu. Mich interessiert die Strategie seines Angriffs – der arme Gegner, der an den Zorn seiner rollenden Augen glaubt und ihn gutmütig besänftigen will. Ihn reizt der bequeme Widerstand. Worte werden Kugeln, Bomben explodieren, der Kampf wird ernst. S. Lublinski schlägt mit der Faust dröhnend auf den Tisch; seine Augen bluten … Gold hat sein Vater in der Jugend aus Kanadas Gefilden gegraben … und die Lust nach Abenteuern hat sich in S. Lublinski vergeistigt. Aber der Freund kennt ihn auch im Zelt; er hat seine träumende Stirn gesehen mit dem poetischen Schneehauch. So gerne jauchzen möchte S. Lublinski! – Selten sehnte sich ein zweiter tiefer nach dem bübischen Lenztag, hinter dem Horizont auf der blauen Wiese nach dem fröhlichen Ringelrangelspiel, wie er. Aber der große Ungeschickte fürchtet, zu stolpern; und es ist ihm nichts beschämender, als lächerlich zu wirken – er würde eher mit einem Gänsekiel Verse schreiben. Unschönheit ist S. Lublinskis Kinderkrankheit … Wie auf gerosteten Geleisen bewegt er sich vorwärts; seine Arme schleudern beim geringsten Außertaktkommen. So ist auch der Rhythmus seiner Seele, seiner Novellen und Dramen. Ich würde jede [43] andre Fassung für unecht betrachten … Aber da steht kein Tor, daran er nicht rüttelt. »Ich habe Prinzessin mein neues Buch: ›Gescheitert‹ mitgebracht« … S. Lublinski beobachtet mich mißtrauisch unter seiner Brille – er weiß, mich interessieren eigentlich nur meine eigenen Dichtungen; aber ich bitte ihn auf seine stumme Voraussetzung, mir selbst eine Novelle seines Buches vorzulesen. Er liest die Geschichte des gehänselten Knaben – er öffnet seine Seele. Schwerer als jedes Kind, dessen Eigenart sich abhebt vom Durchschnitt, hat er gelitten – aber aus der dumpfen, beklemmenden Nacht seiner Leiden recken sich eiserne, kleine Fäuste, grauenhaft verzerrte Fratzen, aus denen klagende Kinderaugen blicken. Endlich von seinen peinigenden Altersgenossen befreit, den folgenden Schultag vergessend, führt er Kriegsspiele auf, allein, hinter den Hecken seines Gartens. In Reih und Glied tausend gehorchende Soldaten –: »Vorwärts marsch!« Und er an ihrer Spitze, als Befehlshaber, als Feldherr! Aus kleinen Steinen besteht in Wirklichkeit das tapfere Heer …
Wieder angelehnt im Sofapolster, das Buch zugeklappt auf dem Tisch, beginnt S. Lublinski, in zynischster Weise seine Nachteulenähnlichkeit zu verspotten. Selten sehnte sich ein Zweiter schmerzlicher und unerfüllter nach Liebe wie der da … Hannibal (eines seiner wuchtigen Dramen), der schwermütige, schwerwütige Krieger, der erwachsene Feldherr seiner Spiele hinter den Hecken seines Gartens. [44] Peter Hille sagte einmal: »Den Hannibal hat er aus gerostetem Eisen geschmiedet.« Aber nicht minder hart ist der zweite Akt seines Königinnendramas: Elisabeth und Essex. Ich habe oft S. Lublinski durch die durchsichtigen, großblumigen Gardinen seiner Fenster dichten sehen und hören. Die Kissen fliegen von den Sesseln, die Beine der Stühle und Tische knaxen, und ein Ertappter sitzt er nun wieder vor seinem Schreibtisch, die reine Stirn in die Hand gestützt. Leise fällt vom Himmel ein feiner Regen – gesponnenes Weinen –, mir ist, als ob auch seine Seele weine … S. Lublinski aber gibt sich nicht lange weichen Stimmungen hin – er rafft sich auf: »Frau Thormann, ich will noch fortjehen, ich habe ein wenig Kopfdruck.« »Aber Herr Lublinski, bei dem Regen?« … »Da ist mir nicht bange; aber ich fürchte, der letzte Akt des Zaren ist mir was in die Breite jejangen« … Frau Thormann, seine hübsche, muntere Wirtin, hat mir mal ganz vertraulich gesagt: »Mucken haben sie ja alle; aber er sieht immer wieder sein Unrecht ein, das muß man ihm lassen.« Und sie würde mich wahrscheinlich für eine Verleumderin halten, wenn ich ihr erzählen würde, daß ihr großer Pflegling gestern auf dem Rücken der Sphinx, am Eingang des Cafés, gesessen hat und den Vorübergehenden, im jubelnden und schwärzesten Pathos, den Schiller deklamierte: »Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen!« Aber in der Frühe brachte mir die Post einen Brief von ihm: die gotischen, getürmten Buchstaben seiner Schrift drohten über meine erschreckten Augen zu fallen: [45] »Prinzessin, ich habe von meinem Freund, nachdem wir uns von Ihnen gestern abend verabschiedet hatten, erfahren, daß Sie noch immer mit dem Schwätzer nachmittags im Café sitzen – ich fordere Sie zum wiederholten Male auf, den Verkehr abzubrechen, andernfalls ich meine Freundschaft zurückziehen werde. Außerdem weiß ich, daß mein Freund unter Ihrer neuen Akquisition leidet. S. Lublinski.« Noch am selben Tag begegneten wir uns. S. Lublinski will an mir in zierlichem Bogen vorbei schlürfen – wir lachen – ich bemühe mich, ihm die Schweigsamkeit des Kaukasiers zu beweisen: »Ich rieche zu gerne Steppe, Herr Lublinski; aber Sie wissen doch, nichtsdestoweniger liebe ich Ihren Freund, den prinzlichen Tondichter; – und bringen Sie ihm meine tiefblonde Verehrung.« – S. Lublinski: »Scheusal!!« –
Alle Passanten haben es gehört – bis nach Hause haben mich die Straßenjungen begleitet. S. Lublinski muß sterben! … Ich trage meinen siebenläufigen, ungeladenen Revolver unter dem Mantel versteckt, und der Mond am Himmel ist wie eine brennende Kanonenkugel. Die Mamsell hinter dem Büffet ruft, als sie mich erblickt, Moloch, den Oberkellner, den unersättlichen Götzen (seine Augen sind blanke Taler). »Wo ist S., der Lublinski?!« »Herr Doktor sind soeben fortgegangen, haben aber für Sie einen Brief hinterlassen.« Und seine Aussage noch bestätigend, weist er auf den Tisch hin, an dem Herr Doktor zu sitzen pflegt: etliche Zündhölzer schwimmen, [46] zerbrochen im Wasserbad auf dem Silbertablett … Sehr geehrte Frau, ich gebe zu, daß ich mich in der Erregung heute morgen im Ausdruck hinreißen ließ, und ich sehe es gern ein und bitte Sie um Entschuldigung; jedoch die Tatsache selbst bleibt trotzdem unverändert bestehen. S. Lublinski.
Zwei Jahre sind’s nun her, als ich vor dem Riesenfenster des Kaffeehauses saß und S. Lublinski in großen, feierlichen Buchstaben antwortete:
»Sire, ich erkläre hiermit unsere freundschaftlichen sowie diplomatischen Beziehungen für aufgehoben« …
[47] Paul Leppin
Ein großer kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins Roman »Daniel Jesus« vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füßen, und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen aus ihrem rauschenden Brunnen. Hat Paul Leppin »Daniel Jesus« oder hat Daniel Jesus »Paul Leppin« erschaffen? Die Vieraugen des großen kantigen Romans sind vom gleichen, tiefen Wachen. Aber Paul Leppin ist gewachsen, ungekrümmt, eine Linde, und sein Haar duftet nach dem sanften Blond ihrer Blüten, und Daniel Jesus hat einen Buckel, und unersättlich ist sein fahler Durst. Auf deine müde Hand, Daniel Jesus, tropft traumleise ein Goldtröpfchen; Martha Bianca tritt barfuß aus dem Herzen durch die Paulpforte. Voll Sonnenbangen ist Paul Leppin wie der Gipfel holdbedrängt, und er formt schwermütig aus goldenen Träumen, die bis in die Wolken ragen, bleierne Buckel. Mit gläubiger Gebärde aber schaufelt die Frau des Schusters das Martyrium von Daniels Jesus Rücken … »Prinzessin«, sagt Paul Leppin zu mir, »wir wollen auf einen wilden Ball gehen«; wir finden nur klingelbehangene Tanzböden. Paul Leppin sehnt sich nach der Orgie seines Romans; die drehte sich [48] hinter Sternenvorzeiten seiner Dichtung, spöttisch hißte sie Satan auf Babelhöhe, Satan Daniel Jesus, Paul Leppins Geschöpf, von dem er sich losträumte. Inmitten der Tanzenden sitzt Daniel Jesus Paul zwischen nackten Eingeweiden, die sich verwickelten, verknoten nach seinem Szepter. Rasende Weiber taumeln sich im weichen, pochenden Raume und wachsen zu Lawinen über lüsterne Rücken. Und auf dem brandigen Haupt der Schusterfrau steht eine Mauer auf, eine leuchtende Krone, wie die des heiligen Landes – in ihrem Riesenleib tanzen alle die blutzerrissenen Leiber und ihre Teufel, wie in einer weißen Hölle; denn Daniel Jesus hat sie erhoben zu seiner Rechten. Es heißt im Buche: »Andächtig küßt sie seinen Buckel, wie ein Kruzifix.« Paul Leppin, ich grüße dich.
[49] Max Brod
Das Volk wird nie nach ihm schrein; er sättigt nicht, er ist überhaupt nicht zum essen, man kann höchstens eine seiner Hände streicheln oder seinen Mund küssen – er hat einen schüchternen Kindermund. Der erzählt immer von sich, immer so hübsche Geschichten, die sich am Ende des Pfades reimen und viele, viele Wege geht er mit den Mädchen in seinen Gedichten. In Grimms Märchen ist er gemalt, wie er als Kind aussah, in Hänsel und Gretel. Ich hatte Max Brod eine Nelke mitgebracht, die trug er in der Hand, als er in den Saal kam, und ich bildete mir ein, er lese mir ganz alleine vor inmitten der königlichen Gemälde; ringsum an den Wänden: Van Gogh. Ich weiß den Namen seines Schauspiels nicht, aus dem er erzählte. Aber immer war es die Liebe, die über seine Lippen kam – mein Herz ging blau auf unter den vielen lauschenden Herzen. Max Brod ist ein Liebesdichter. Auch der andere Aufzug seines Schauspiels war ein Liebesgedicht, ein vielstimmiges, ein streitendes. Ich glaube, man kann nur Liebesgedichte in »Prag« schreiben, wo so viele Bögen und Wälle sind; und lauter graue Figuren treten aus den alten Häusern hervor – die Steingespenster führen die Herzen bange zusammen. Ich [50] habe manchmal Sehnsucht nach Prag, schon um mit Max Brod und meinem Paul Leppin durch die Gewölbe ihrer Heimat zu wandeln, wo die alten Häuser wie Mumien stehen, zur Rechten und Linken.
[51] Alfred Kerr
Silvester 1908 bin ich Alfred Kerr begegnet unter künstlichen Balkansternen, zwischen schleierverhüllten Angesichten schöner Haremsfrauen und fezbedeckter Häupter weißgekleideter Muselmänner. »Wissen Sie, wer der Beduinenfürst war?« (Wir grüßten uns nach des Bosporus Zeremoniell und Sitte.) »Reißen Sie mich nicht immer aus meinen morgenländischen Illusionen.« antwortete ich meiner Begleiterin. Später hörte ich, der Araber mit dem Seidenmantel sei Alfred Kerr gewesen. Am besten gefallen mir seine Gedichte, sie sind humorsüß und fallen ihm in die Hand. Aber seine allerschönste Dichtung war ein spanisches Essay; jedes Wort trug eine Abendrotrose im Haar, jedes Wort war eine Senora, erhob sich und tanzte.
Über den Kurfürstendamm sehe ich ihn manchmal nach der Kolonie heimwärts gehen. Dort wohnt Alfred Kerr in einer Villa, die beneidet wird, sonst pflegt man die meisten Kolonisten ihrer Villa wegen zu beneiden. Heimlich birgt dieses nachtumheckte Schlößchen seinen Dichter. Spät muß der Kritisierende die Kritik niederschreiben, die sind blaunervig wie er selbst und duften nach melancholischer Ironie. Wir haben uns beiden nur immer das [52] Schönste gesagt, wir kennen uns nur im Gruß. Mich dünkt, er träumt von »Heinrich« wie ein einziger Sohn, der sich einen Bruder wünscht. Er träumt immer von seinem Bruder Heinrich Heine. Bald gleicht er ihm auf einen Nerv. Alfred Kerr müßte durch die Straßen von Paris wandern wie der tote Bruder, mich stört des Lebenden chevaleresker Mantel, sein abgestäubter Hut. Warum denke ich so? – Morgen lese ich im Tag seine gedichtete Kritik über Hauptmanns Premiere.
[53] Bei Guy de Maupassant
Eine Phantasie
Dir allein will ich mein interessantestes Geheimnis anvertrauen, aber du mußt dies als meine Beichte betrachten und bewahren wie ein Amtsgeheimnis.
Paris!
Ich stand an den Türpfeiler eines Magazins gelehnt und weinte, als wolle ich mich in Tränen auflösen. Am Himmel standen schwarze Gewitterwolken, und der Boulevard war nicht allzu überfüllt von Spaziergängern; aber auch unter den wenigen Menschen, die mich erstaunt betrachteten, litt ich unsäglich. O, petite, o, was fehlt Ihnen, Mademoiselle? Sehen Sie doch, Madame, wie blaß die Kleine aussieht, und die großen Augen.
Ich war damals ungefähr sechzehn Jahre alt, und noch in beständigem Kontakt mit meinem Gotte. Ich bildete mir nämlich ein, daß, als plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erdröhnte, der liebe Herrgott aus besonderer Freundschaft zu mir es gewittern ließe, über den Menschen, inmitten derer ich litt. Die auffällige Kritik über meine Person, die sich in diesem lauten Bedauern aussprach, entfachte auch schließlich meinen Zorn. So glaubte ich, [54] daß die zwei Passanten, die plötzlich vor mir haltmachten, kein anderes Motiv leitete, als die Lust zur Neckerei. Namentlich erbitterte es mich, da der helläugige der beiden seinem Begleiter zurief: »Mon cher, sehen Sie doch einmal den kleinen Teufel!« Der große Herr runzelte die Stirn, dabei murmelte er ein paar leichte Worte; ich verstand sie wohl, aber ich möchte sie im Interesse meiner Person lieber verschweigen; wieder fielen große Regentropfen aus meinen Augen, dann meinte der dunkle Herr in milderem Ton: »Es handelt sich hier wieder um eine Bettelnovellette«, und reichte mir ein Geldstück hin. Ich war sehr betroffen und konnte mich nicht enthalten zu rufen: »O, Monsieur, ich bin keine Komödiantin und keine Bettlerin.« Er schämte sich und versuchte durch allerhand Reden sich zu entschuldigen. »Pardonnez, Mademoiselle, pardonnez, aber da Sie, wie ich aus Ihrer Aussprache entnehme, keine Französin sind, werden Sie sich schwerlich eine Vorstellung von der Schauspielkunst unserer Nichtdamen machen können. Und möchte ich Sie bitten, sich mir anzuvertrauen.« »Ich bin so allein, Herr«, sagte ich; ich glaube, sonst erwiderte ich nichts mehr, denn ich war ermattet bis zum Tode. Während wir noch beisammen standen, trat ein dritter zu den beiden und klopfte dem dunklen auf die Schulter: »Na, mon ami, schon wieder im Dienste der Frauen?« Der Helläugige, den ich trotz meiner tragischen Stimmung heimlich seiner Schönheit halber bewunderte, schob seinen Arm in den des hinzukommenden Herrn – ich glaube [55] auf ein paar leise gesprochene Worte des Dunklen hin – und zog ihn, leise auf ihn einredend, mit sich fort. Dann wandte sich der Bleibende mir zu, und es war eine eigentümliche Mischung von Erkühnen und Güte in seinem dunklen Auge, das mich in Furcht jagte und zu gleicher Zeit mir Mut machte. »Hier ist kein Platz für Auseinandersetzungen, mein kleines Fräulein, und ich bitte Sie, mir zu folgen.« Der energische Ton meines Beschützers wirkte suggerierend auf mich, und ich folgte ihm. Er schwieg, bis wir die gegenüberliegende Seite des Boulevards erreicht hatten; dann faßte er meine Hand und sagte, jedes einzelne Wort betonend: »Mademoiselle, wenn Sie in mir einen Freund gewinnen wollen, so fürchten Sie sich nicht und vertrauen Sie mir Ihr Schicksal an.« Ich war sehr glücklich über seine lieben Worte und atmete auf und wünschte mir nichts sehnlicher im Augenblick, als seine Hand zu drücken. Wir nahmen Platz im Garten eines Restaurants; der Fremde bestellte zunächst Bouillon und dann ein Hühnchen, welches er mir wie einem Baby vorschnitt. Dabei flüsterte er mir zu: »Grade so ein kleines Hühnchen wie Sie, Mademoiselle.« Dann mußte ich ihm meine Lebensgeschichte erzählen, wie ich aus meiner Heimat durchgebrannt bin. »Und warum gerade nach Paris, kleiner Robinson?« Zögernd und fast tonlos entgegnete ich: »Ich wollte in ein Meisteratelier.« Dann fragte der Fremde: »Haben Sie schon an eines angeklopft?« »Nein«, sagte ich verlegen, »ich habe mich mit meinem Gelde verrechnet [56] und wollte mir erst etwas verdienen, um wenigstens für einen Monat die Kosten zu erschwingen.« »Und was dann?« fragte er nachdrücklich. »Ja, dann, hoffe ich, Stipendien zu bekommen.« Hierbei holte ich einen Zettel aus der Tasche, worauf die Adresse jenes Kleidermagazins stand, in dem ich engagiert war. Mein Beschützer begann zu lachen und meinte: »Eine Direktrice können Sie doch sicher mit Ihrem schlanken Figürchen nicht abgeben.« »Aber eine Kostümzeichnerin.« »Ah, Sie wollen mit Stilleben Ihre Karriere beginnen.« Wir lachten beide. – Nach einer Weile fragte ich ihn, ich glaube sehr scheu:
»Herr, wer sind Sie?«
»Ich bin ebenfalls ein Kunstjünger.«
»Maler?« fragte ich.
»Nein, aber Schriftsteller.«
Ich atmete auf in der sicheren Empfindung, mich in verläßlichen Händen zu befinden.
»Nun werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, kleiner Robinson, zumal ich Sie nicht Ihrem Schicksal überlassen werde, bis Sie Ihre geschäftliche Angelegenheit geordnet haben. Ich bringe Sie zu einer Freundin, die mir lieb und teuer ist, zu einer Madame L. T., die wird Sie mit Vergnügen aufnehmen.«
Wir erhoben uns.
»Allons, Mademoiselle!«
Beim Verlassen versuchte ich, meinem Begleiter seine Auslagen zurückzuerstatten, obgleich dies meine letzte [57] Barschaft war. Ich durfte die Bitte gar nicht zu Ende sprechen, als er schon den Kopf schüttelte: »Aber Mademoiselle, Sie sind mein Gast.« – In der Rue de R. hielt das Kabriolett vor einem villenartigen Hause. Ein zierliches Mädchen in Rosa öffnete die Tür und sagte, ohne meinen Begleiter zu Worte kommen zu lassen, fast vorwurfsvoll: »O, Monsieur, Madame hat bis vor einer halben Stunde auf Sie gewartet, nun ist sie allein in den Bazar gefahren.« Betreten murmelte mein Begleiter: »Mon Dieu, wie konnte ich das vergessen!« Ich fühlte mich als die Schuldige, dieses mochte der Fremde empfinden, da er beruhigend sagte: »Ich nehme die Schuld auf mich.« Ich hörte ihn leise vor sich hinsagen: »Eine liebe Person ist Madame L. T.« Dann wandte er sich wieder zu mir: »Nun, ich werde Sie gegen Abend hinbringen, und Sie werden sie schätzen lernen, wie ich.« – »Gefällt Ihnen mein Heim?« fragte Guy de Maupassant, der mir unterwegs endlich seinen Namen genannt hatte, von dessen Bedeutung ich damals noch keine Ahnung hatte. »Jetzt wollen wir uns ruhig überlegen, was wir zu tun gedenken. Kommen Sie doch aus Ihrem Winkel hervor und fürchten Sie sich nicht vor mir! Haben Sie auch schon daran gedacht, falls Sie noch Eltern haben, daß die in Besorgnis sein werden, und daß ich eigentlich verpflichtet bin, ihnen Nachricht zukommen zu lassen?« Er mochte wohl meinen Schreck bemerken, denn er fügte schnell hinzu: »Nun, wir sind ja Kollegen, außerdem bin ich kein Moralprediger, und Ihr Unternehmen rüge ich keineswegs, im Gegenteil, [58] es imponiert mir, aber na, diesen Punkt wollen wir gemeinsam mit Madame L. T. überlegen. Für den Augenblick bin ich dafür, daß der kleine Robinson von den Strapazen seines Abenteuers sich etwas ausruht. Ich werde unterdessen ein wenig ausgehen und frühzeitig wieder erscheinen.« Er war fort, und ich allein, mutterseelenallein im fremden Hause. Zunächst betrachtete ich die Gegenstände des Zimmers. Auf dem Schreibtisch standen einige Photographien, unter denen ich auch den helläugigen Herrn von heute morgen fand. Zu meiner großen Freude, denn er gefiel mir schon wegen seiner blonden Locken sehr gut. Dann aber spürte ich die so lange zurückgehaltene Müdigkeit, legte mich auf eines der Kanapees und deckte mich mit den Decken zu, die Maupassant für mich bereitgelegt hatte. Aus traumlosem Schlaf, wahrscheinlich durch das Geräusch einer aufgehenden Tür aufgewacht, mußte ich meine Gedanken erst mühsam sammeln. »Herr Gott, wo war ich denn eigentlich?« Ich eilte ans Fenster, und mir schoß plötzlich angesichts der fremdartigen Uniformen auf der Straße unten der Gedanke durchs Hirn: »Wie kam’s doch noch, daß ich in Paris bin.« Mich überkam plötzlich die Angst eines Gefangenen, der keinen Ausweg weiß. »Herr Gott, wenn nun der fremde, dunkle Mann ein Verbrecher wäre?« Mir wurden plötzlich alle Sensationsgeschichten meines Lebens grauenvoll lebendig. Um mich zu orientieren, um gleichsam die Waffen meines Feindes kennen zu lernen, ging ich an den Schreibtisch. »Was, Goethe!« Nun [59] fühlte ich mich in Sicherheit. Und was mich am meisten interessierte, da lag ja auch Petöfi. Der Dichter, der mir gefiel in seiner ungarischen Studentenuniform. »Ach, Monsieur!« rief ich erstaunt und erschreckt. Maupassant stand nämlich vor mir, ich mußte sein Klopfen überhört haben. »Nun, mein kleiner Robinson, Sie sehen ja so frisch aus, wie ein Dijonknöspchen; jetzt wollen wir weitere Dispositionen treffen. Übrigens öffnen Sie einmal die beiden Schachteln, mit deren Inhalt bald zwei kleine Buben spielen werden.« In der einen Schachtel lagen schonungsvoll Bleisoldaten geschichtet, mit dunklen Waffenröcken und roten Hosen. In der Mitte der Schachtel aber lag, umgeben von seinen Getreuen, Napoleon der Dritte, hoch zu Roß. Aus der andern Schachtel glotzten mich porzellanene Froschaugen an, Enten mit gelben Schnäbeln, Reptilien aller Arten – ein ganzes Aquarium. Ich richtete die Soldaten parademäßig. Maupassant hatte währenddes eine Waschschüssel herbeigeholt, und wir ließen nun die Ungeheuer auf den Fluten, die wir zu künstlichen Stürmen erregten, nach Herzenslust austoben.
Wir, Maupassant und ich, waren auf einmal intim wie zwei Gespielen. Das fand auch Maupassant. »Wir würden uns, glaube ich, sehr gut vertragen«, sagte er plötzlich und klopfte mir auf die Backe. Dann aber begann er ernstlich über meine Situation zu reden. »Ich habe eben Erkundigungen eingezogen über das Magazin. [60] Der Chef steht keineswegs in gutem Leumund. Ich rate Ihnen davon ab, dort einzutreten, aber vielleicht haben Sie noch andere Fertigkeiten, die sich verwerten ließen?«
»Ach ja, Herr Maupassant, ich tanze sehr gut.«
»So, dann wäre ja der Zirkus oder das Ballett gar nicht übel!« meinte er nicht ohne Ironie. »Und welcher Tanz wäre denn Ihre Spezialität?«
»Danse de ventre.«
»So?« Maupassant lächelte erstaunt. »Da müssen Sie mir gleich eine Probe Ihrer Fertigkeit ablegen.«
»Eh bien!« rufe ich in heller Begeisterung: »Sie werden der Pascha sein, vor dem ich mich mit meinem Kostüm produziere.« »So hätten wir auch das Lokalkolorit«, ergänzte er. Ich war indessen schon so eingebürgert in der gastlichen Wohnung, daß ich die Türe öffnete und Maupassant bat, so lange meine Toilette währte, zu verschwinden. Eine golddurchwirkte Decke, die auf einem der Tischchen lag, nahm ich und wand sie um meine Lenden bis zu den Füßen herab. Ich löste meine Haare und entnahm einer Vase einige Nelken, die ich mir kreuzförmig um den Kopf flocht. Ich muß ausgesehen haben wie eine Wilde.
»Entrez, monsieur le Pascha, s’il vous plaît.«
[61] Maupassant trat ein, auf dem ausdrucksvollen Kopfe einen Fez und um den Hals eine reiche Münzenkette, mit majestätischem Ernst nahm er auf einem zum Thron umdrapierten Sessel würdig und feierlich Platz, und die Vorstellung begann.
»Charmant, drôle, superbe!« rief er ein über das andere Mal, und seine Würde vergessend, begann er taktmäßig den Kopf hin- und herzuwiegen bei jedem, Kastagnettenschlag markierenden, Schnippen meiner Finger. Die Nelken aus den Haaren nehmend, kniete ich zum Schluß vor ihm nieder. »Mein Fürst und Gebieter, hat deine Prinzessin Gnade vor deinen Augen gefunden?«
»Was begehrst du?« rief der Pascha mit Pathos.
»Deine Freundschaft, Herr.« – Wir fuhren am Abend noch, da Maupassant sich dagegen sträubte, mich in das obskure und für mich gänzlich ungeeignete Hotel »Maison Bohème« zu bringen, in dem ich bei meiner Ankunft, da es mir wie ein Wahrzeichen erschien, abgestiegen war, zu Madame L. T. – Unterwegs bat er mich, ihn zu küssen, da er doch mein Gespiele sei. Ich war im Begriff, meinen Kopf in die Höhe zu recken und ihn zu küssen, da ich seinen Wunsch ganz natürlich fand – doch nein, – plötzlich senkte ich meinen Kopf wieder in die alte Lage zurück, denn in diesem Augenblick fiel mir ein, was Maupassant mir gesagt: »Ich verachte die Frauen, weil ich sie nötig habe.«
[62] »Nun, plötzlich anders gewillt?« rief er erstaunt und gekränkt.
»Ah so« meinte er lächelnd. – – –
Madame L. T. empfing mich liebenswürdig und küßte mich nach französischer Sitte auf beide Wangen. »Hier bring’ ich Ihnen einen kleinen Robinson«, erklärte Maupassant. »Und vor allen Dingen une belle fille«, sagte Madame L. T. weiter. »Das finde ich keineswegs«, warf Maupassant ein, »apart – ja – ein Mädchen mit Knabenaugen.«
Mit gedämpfter Stimme unterhielten sich die Beiden, wahrscheinlich über meine Zukunft, hinter der Portiere, und dann empfahl sich mein Beschützer, nicht ohne mich nochmals ausdrücklich zu beruhigen: »Mein liebes Fräulein, seien Sie unbesorgt, Sie befinden sich in den besten Händen!« Madame führte mich in ein kleines Boudoir, wo wir den Tee einnahmen. Sie hörte nicht auf mit Liebkosungen; und noch mehr wie meine Leidensgeschichte interessierte sie mein Renkontre mit Maupassant. Meine Wangen glühten im Gespräch, und ich machte ihr das Geständnis, daß Maupassant mir sehr gut gefiele, daß er mich habe küssen wollen, was ich aber stolz abgelehnt. Als ich schwieg, begann die Dame, die während meiner begeisterten Aussprache erblaßt war, mir klar zu machen, in der delikatesten Weise, daß man die Liebe eines Mannes wie Maupassant sich am besten bewahre durch Zurückhaltung. Und dann verstand sie in rührender [63] Weise, mich aufmerksam zu machen, wie besorgt meine Angehörigen nun wohl um mich sein würden. Sie brachte mich zu Bette wie ein Kind, und ich konnte nicht unterlassen, meine Arme um sie zu schlingen wie instinktiv, um ihr Abbitte zu leisten dafür, daß ich ihr Schmerzen bereitet hatte. Ich weinte bitterlich diese Nacht, nicht ohne das wohltuende Gefühl einer gewissen Hochachtung vor mir selbst – denn ich faßte den Entschluß, eine heroische Tat zu vollbringen, Paris zu verlassen – Maupassant nie wiederzusehen.
Morgens früh klopfte ich an die Tür der Dame und teilte ihr meinen Entschluß mit, daß, falls sie mir das Geld zur Rückreise borgen wolle, ich Paris verlassen würde. Ich glaube, im Grunde plagte mich das Heimweh, das durch das Wort Madame L. T’s., noch geschürt wurde.
»O, meine liebe Madame L. T., nicht wahr, Sie grüßen Monsieur Maupassant von mir?«
[64] Paul Lindau
Manchmal sitzt Paul Lindau abends im Café des Westens und freut sich über die bunten Jünglinge und zwitschernden Mädchen. Er ist nicht hochtrabend, er tut mit. Seines Herzens leuchtende Farbe ist nicht eingetrocknet. Meine Eltern hatten Paul Lindau furchtbar lieb. Er war Redakteur in der Elberfelder Stadt. Ich habe Paul Lindau eines Tages gesagt, Herr Doktor, ich bin Else Schüler. Da meinte er, er habe meine Eltern nicht vergessen. Und wenn wir uns nun begegnen, denken wir an ein Haus am Wupperstrand, darin die Feste ein und aus tanzten. Paul Lindau hat Temperament, er kann keine Maske anlegen, sie würde nicht lange dauern vor seinem Herzen. Er ist ewig jung. Aber auf allen Tischen und Vorsprüngen seiner Gemächer liegen antike Sammlungen, rissige Geschenke aus allen Erdteilen. Ich muß Paul Lindau aus meinem Leben erzählen; er versteht zuzuhören; diamantisch strahlt seine Liebenswürdigkeit. Mutter und Großmütter, Vater und Urväter hängen eingerahmt in goldenen Rahmen über seinem Schreibtisch; er selbst als Knabe blauäugig und rosengelockt. Nicht viel älter war ich, als ich seinen wundervollen Barmer-Roman las, von seinem alten Pfarroheim und den beiden süßen Kusinen. No leckern Äppeln rukt sinne Liebesgeschechte [65] on dat ganze Hus von sing heelegen Onkel bis bowen op die Rompelkammer, wo die Äppels em Wenter leegen. Ich erinnere ihn an die Sitte. Paul Lindau weiß alles noch ganz genau. Diabolisch sind die schwarzen Täler der Schornsteine – denkt seine ernste Stirne, aber die Sonne spielt dazu ganz bunt auf seinen schlanken Händen.
[66] Bei Julius Lieban
Ich bitte Herrn Lieban, mir einen Nachtigallenspaß aus seinem Leben zu erzählen. Wir sitzen in seinem kleinen Gemach auf gemondeten und gestreiften Diwans, Herr Lieban, sein Töchterchen Eva und ich. Herr Lieban erzählt von Wanderzügen nach dem Süden. Wunderbar ahmt er die Begeisterung des temperamentvollen Publikums nach; eine ganze Reihe verschiedener Mienen huschen auf seinem Gesicht vorüber. Noch heute spricht man in Florenz davon, wie er eines Tages angeflogen kam und gesungen und es hinausgejubelt hat das feurige Lied an die Teure seiner Heimat: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!!« Und wieder zarter einsetzend: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben …« Und bei seiner Abreise haben sie auf dem Bahnsteig, auf dem Trittbrett und im Waggon gestanden. Jedes trug ein leuchtendes Herz am Busen geheftet. »Arivederla, Signor Giulio, arivederla!« Ein halbes Kind war er damals noch, aber Herr Lieban ist noch heute neunzehnjährig mit seinen kurzen, schwarzen Ringelrangelrosenlocken und den dunklen Schalkaugen. – Mutwillig, sturmwillig über die weichen Teppiche – hin und her flattern die Portieren. »Hab’ im eigenen Hause keine Ruhe – hören Sie, da klingelt’s wieder.« In diesem Salon unterschreibt Maestro [67] ein Engagement, in jenem erwarten ihn bittende Lippen. Einige Damen in Pelz und Federhüten sehe ich durch den Perlenvorhang auf niedlichen Rokokostühlen sitzen. Herr Lieban soll in einer Wohltätigkeitsvorstellung singen, Herr Lieban kann nicht abschlagen, das wissen alle schon. Mit zugehaltenen Ohren eilt er plötzlich wieder an uns vorbei; aus dem Studierzimmer dringen schmerzliche Töne einer harrenden Schülerin. »Sie stimmt ihre Kehliatur«, flüstert mir schelmisch Eva ins Ohr. Und Herr Lieban weiß gar nicht, was er zuerst erledigen soll. Klein-Eva und ich sind ganz alleine – Klein-Eva hat ebenfalls einen Kobold im Auge sitzen und Goldflatterhaare hat sie; sie will nicht zur Bühne gehen – der Vater hat ihr zu viel Schlimmes von dort erzählt. Und als Herr Lieban sich uns wieder widmen kann, bitte ich ihn, auf sein Töchterchen zeigend, mir auch etwas Schlimmes von dort zu erzählen. Er nickt einige Male ernsthaft mit dem Kopf, er nickt seinem Liebling zu; der scheint zu wissen, was seinen Vater so verwundet hat. »Ja, ich kann’s nicht verschmerzen«, sagt Herr Lieban, »genau fünfundzwanzig Jahre sind’s her, ich spielte den Mime in der Premiere des ›Siegfried‹ im Berliner Viktoriatheater. Wagner stand hinter der Bühne, und es geschah, daß man mich nach dem zweiten Akte verlangte und den Schöpfer vergaß. Wagner stürmte fort und ließ sich am Abend nicht mehr sehen. Aber das, was ich nicht verschmerzen kann, ist: als wir am andern Tag den Erfolg des Meisterwerks feierten und wir Mitwirkenden uns am Eingang des [68] Theatersaals aufgestellt hatten, Wagner unsere Ehrfurcht in Form einer Gabe zu Füßen zu legen, daß er da jedem von uns lebhaft die Hand drückte, an mir vorüberschritt, meinen Gruß nicht beachtete und mir zurief: ›Sie haben mir ja den gestrigen Abend umgeschmissen.‹ Sehen Sie, das habe ich nie verschmerzen können, gerade weil er ein Gottkünstler ist.« Eva sagt: »Vater hat’s gedruckt im Buch stehen« – sie springt aus der Türe und holt das vergilbte Buch vom Schreibtisch. Herr Lieban muß lächeln. Aber seufzend mit der Puppe im Arm begleitet mich Eva die Treppe hinunter. Durch die Villenallee nach Hause zu lese ich im Vorübergehen an der Litfassäule Julius Liebans Namen. Er singt heute Abend den David, den finsterulkigen Schusterjungen. Den David kann kein anderer singen. Seine Stimme sind Saiten einer Leier, die einmal an einem Freudentage ein Gott erschaffen hat. Seine Lieblingslieder rauschen durch Seidengärten, und mit Silberglocken behangen klingen seine Schelmengesänge und tragen bunte Tracht. »Es ist zum Küssen …« einer sagt’s dem andern unter den großen Lichtsternen entzückt ins Ohr.
[69] Tilla Durieux
Ich würde für sie auch im Privatleben das Eboligewand wählen, den zackigen, weißen Kragen, der ihr Angesicht, ein Bukett von Lichtwende und Herzschatten, wie mit einer Atlasmanschette umgibt. Frau Durieux spielt im Theater Reinhardts die Eboli; die schlummernde Saitenspielerin ist auferstanden aus ihrem Sarkophage. Es tut wohl, sie in »prinzeßlicher« Wirklichkeit wiederzusehen, in ihrem eifersüchtigen Herzen zu erleben den Kampf mit der Kabale. Den schnöden Verrat an die Königin verabreicht sie dem lauernden Pater noch mit traumhaften Fingerspitzen. Keineswegs hysterisch gehässig – historisch wie ihr Kleid wirkt das intrigante Frauenspiel in der Kapelle steinerner Nacht, an der blutgenagelt Gottes Sohn hängt. Frau Durieux’ verzweifelte Gebärde, nachdem ihre Königin sie verstößt, erinnert an das Gemälde der büßenden Magdalene. – Als ich sie vor einiger Zeit in ihrem Gemach erwartete, suchte ich unwillkürlich nach der Laute. Da kam mir entgegen Rhodope, ihre Hände hingen herab wie Myrthen. Diese himmelweiße Syrierin ist der Glorienschein ihrer Eingebung, das keusche Geschmeide ihrer Begabung. Beweglich ist die Verwandlungskunst der Frau Durieux, denn wer vermutet nach der bräutlichen, geduldigen [70] Königin und der verwöhnten Lautenspielerin, »Sie« in der bitteren Haut der eigensinnigen Spielverderberin der ältlichen Schwester der Brüder im Friedensfest. Krummrückig zum Fußaufstampfen, hartnäckig widersetzend, den Angehörigen eine giftige Augenweide. – In »Gott der Rache« von Schalom Asch spielte Frau Durieux die junge Kupplerin des Bordells. Ich sehe sie noch keck in der Mitte des Sofas sich hinflegeln mit der Frechheit einer freigewordenen Sklavin, mit dem Machtbewußtsein, vernichten zu können je nach Berechnung. Das scheußliche Verbrechen ihres früheren Bordellchefs zappelt auf ihrem Knie, sie läßt es kichernd über ihrem Strumpfband hängen, sie braucht nur den lockeren Vorhang aufzuheben. Tilla Durieux spielte skandalös hervorragend. Hier nenne ich die Schauspielerin, die Charakteristik ihres Zivils vergessend, kurzweg »Tilla« Durieux; aber wer sie in ihrem Privatgemach je sah, umgeben vom Staat schützender Tore und mächtiger Bequemlichkeiten, sie selbst zum Empfang der Gäste sich liebenswürdig ermannend, wird mit mir empfinden, daß sie keineswegs eine Bohemin ist, zu treu dem Einen außerdem, auch daß ihr die seelische Leichtigkeit der Umgebenheit fehlt, und ich nenne sie »Frau« Durieux nicht etwa wie man die Spießerin zu nennen pflegt, aber weil sie die Hofdame der Schauspielerinnen ist; jeder Tag muß ihr »d’or-jour« sein. – Auf dem Sezessionsfest im Februar teilte sich die Menge in zwei Flittergitter, als sie den Saal betrat. Sie trug ein dunkles Spitzenkleid und eine hängende Nelke [71] im Haarknoten. Ich fragte den Rektor in »Frühlingserwachen« an unserm Tisch, wer die schwarze Leopardin mit dem Blutstropfen am Nacken sei. Prangende Schlichtheit, geschmeidige Charme, in ihrem Herzen blühen feine Nerven schmerzvoll auf. Aber als es Mitternacht war, tanzte sie, auf einer Perle des Sekts rollend, mit leuchtenden Augen im bunten Spiele der Masken. Dieses Jahr gibt es wieder ein Fest; ich hoffe, daß Frau Durieux auf Erden weilt, sie hält sich nämlich ab und zu mit Vorliebe oben in den Wolken verborgen, in ihrem Luftballon, und was wird sich Prinz Karneval ärgern, wenn sie ihm nur eine lange Nase machen wird. – Die Maschen des Netzes, das den Ballon umhüllt, lockerten sich schon einmal. »Ein Punkt in der Ewigkeit« kommt man sich im Raume vor, erzählt Frau Durieux. Sie ist ohne Furcht und Zaudern. Zwischen Leere und Leere, Vogel sein, nur Atem, so folge ich in Gedanken den Schilderungen der Luftschifferin in die Lüfte. Da nimmt ihr Terrierhund einen Anlauf aus salonansalongereihter Ferne, springt mir auf die Schulter, ich falle vor Schreck aus allen Himmeln.
[72] Friedrich von Schennis
Der Baron ist eine Schöpfung aus Genie; er ist bereitet aus Himmel und Satan, aus Fegefeuernuancen und gottblau. Mein Bruder nannte ihn den Marquis; ich dachte immer, könnte ich den Marquis sehen. Eines Tages sah ich den Marquis in gepuderter Perücke, in blauem Samtrock, die Rokokohände zwischen feinen Spitzen, lustwandeln über die Wege von Sanssouci auf seinem Bild in der Nationalgalerie. So überall im Rahmen atmet er mit seinen Farben vermischt; zwischen ocker und bleu liegt er auf seiner Palette. Und aus den Rosen des Parkes steigt sein Duft und die Stirn des Schlosses bescheint seine Andacht. Friedrich von Schennis ist ein Andächtiger. Noch zwischen losen Frauenlippen und seinem wilden Zynismus lauscht er nach Gott. Sein Zynismus schluchzt. Der Baron ist schön, sein Angesicht ist feierlich, immer liegt ein Schleier auf seiner feinen Haut. Die fältet sich schmerzlich dann, wenn sein Auge die Wirklichkeit erblickt, die Wirklichkeit ohne Zeremonie. Ich wundere mich nicht, daß er den Philister haßt, den Sonntags- und Alltagsphilister; noch eindringlicher aber empfinde ich seine Verachtung gegen den freigewordenen Bürgersohn, den Studenten der Kunst. »Die Kunst kann man nicht erlernen, nicht wahr, Herr Baron, [73] Herr Marquis, König aller Könige?« Ich sitze neben ihm und bin der Prinz von Theben. Und zu seiner Linken versteht ein Arzt des Rausches die unbekümmerten Launen des Barons zu beschwichtigen. Aber der Baron liebt das Gaukelspiel des Herzens. Wir müssen mit ihm Champagner trinken, er will Begleiter zur Vergessenheit haben. Aber ich weiß, der Baron kann nicht vergessen, er kann wohl trunken, doch nicht betrunken werden. Ich vergieße den schäumenden Luxus; der herrliche Mundschenk zersplittert, mich zu ehren, meinen gläsernen Kelch. Das hätte Friedrich der Große auch in seiner Flötenlaune getan; der Baron stammt aus der Zeit der Flötenkonzerte. Er hat kein Alter, er ist wandelbar wie die Zeit, die einmal Lenz und einmal Herbst zum Zeitvertreib ist. Trägt der Marquis nicht seine Perücke wie auf der Schloßlandschaft in der Galerie, so ist sein Haar aschblond, sein Auge ist aus Merveillieuxseide, und seine Hand bewegt sich immer wie zum Holen einer Schönen zum Menuett. Seine Freude und seine Schwermut sind Jünglinge, und darum haßt er den Tod und möchte ihn vergessen im Wein. Sein Esprit erinnert an Voltaire, lauter Blitze, die treffen und Brände werden. Wenn der Mond gegangen ist über den Garten, dann werden wir auch nach Hause gehen, ich will noch über Friedrich von Schennis einen Essay dichten. Seine Bilder sind adlig und blaublütig. Liszt, der Musikpapst, Wagner und der Großherzog von Weimar sind seine stolzesten Werke, und die vielen Liebeslandschaften hängen in Nischen minniglicher Schlösser.
[74] William Wauer
Als das Café Kutschera noch seinen adligen Namen »Sezession« trug, hielt in dem oberen Raum des Cafés William Wauer einen Vortrag über Theaterkunst. Ein junger Schauspieleleve nahm mich mit herauf; viele Eleven und Elevinnen schritten vor mir in den Saal der grauen Sammetsofas und Sessel; ich war die einzige unter den Zuhörern, die Wauer noch nie gesehen und doch ihn sich genau so vorgestellt hatte mit der eigenartig schmerzlichen Sicherheit in den Augen und in den Gebärden. Ein großer Geiger, der nicht die göttliche Geige findet. Ein großer Dirigent – ist nicht sein Vortrag ein Zusammenspiel vielerhand Instrumente gewesen. Lebendige Violinen, seine Schauspieler; er mag nicht die erste Violine zwischen ihnen, die den Ton angibt, kein Genie, das sich abtönt, hervortönt von den anderen Tönen. Das Zusammenspiel seiner Leute, eine Genieleistung soll sie sich heben aus der Fertigkeit seiner Hand. Als das künstlerische Theater aus Moskau in Berlin gastierte, gedachte ich der Worte William Wauers. Der Zar bis zum Onkel Wanja und die Frauen all, glichen seinen Idealgeschöpfen. Wandelnde Töne, schreitende Melodien, unbezahlbare Instrumente mit tausendtiefem Ton. Aus Spielläden und Kotillongeschäften liefert man William Wauer, Spaßgeigen, [75] Trompeten, Kriköhs: Dilettanten und Tantinnen. Sie essen ihre Rolle, um sie ganz im Leib zu haben. Sie muß ihnen auf den Leib passen. Aber der Schauspieler soll den Duft seiner Rolle einatmen. Über solch trunkene Seele zu streichen mit seinem Bogen. – Seine Regie steht auf Füßen, das Milieu gleicht dem Bewohner des Schauspiels. Erster Aufzug: Veranda, von Säulen umstanden. Zweiter Aufzug: Wohnzimmer der gräflichen Familie. Man kann sich gar kein anderes Innere vorstellen nach dem Wuchs der Villa. William Wauers Regie ist anatomisch. Sein Blut möchte fließen durch die Adern seiner Schauspieler wie ein Strom durch das Spiel. Das soll keimen und aufgehen aus seiner Gestalt in vielen Gestalten. Kein Asiate ist er, dem die Tragödie nur eine einzige Kriegsgebärde wird. Er meint, zu den Wilden gehöre ich, und mit der eigenartig schmerzlichen Sicherheit im Auge betrachtet er mich wie ein fremdes Instrument aus Bambus.
[76] Wauer-Walden via München usw.
O, wie wohl ist mir im Herzen zwischen den vielen scherzenden Herzen; alle sind bunt und brennen, aber mein Herz ist blau und glüht. Am Morgen hänge ich es an einen sorglosen Blumenbaum und lasse es zwitschern. Wie ich so dahinlebe, ich bin einer der fahrenden Schüler aus St. Peter Hilles Platonikers Sohn. Im Tanzschritt ziehen wir durch das Grün der Stadt hintereinander mitten im Mondpolka. Die Straßen und Plätze duften noch nach Marienbalsam der Dome. Wir schweben, kennen die Sünde nicht, an der Welt vorbei, mit München der Südstadt Deutschlands im Arme. Ich muß München immer küssen, schon, weil ich Berlin hinter mir habe; wie von einer langweiligen Kokotte geschieden fühle ich mich. Meine Freunde spielen Harmonika, wir ziehen an Schaufenstern pietätvoller Läden vorbei; Meisterbilder, frommer Schmuck, wilde Waffen aus den Gräbern der Bibelfürsten und überall die blauen König-Ludwig-Augen! Eine alte Riesenkommode ist München, aus einem bayerischen Alpenknochen gehauen. Man kann so andächtig kramen in München und ausruhen auf gepolsterten Erinnerungen. Hier freut man sich [77] seiner selbst, man findet sich in seinem glücklichsten Augenblick oben auf dem Berge der Stadt. Im Vorbeischreiten an den Gärten Obersendlings flüchtet vor mir das prahlerische Häuserregiment Berlins. Es steigt die Erde, ich sitze auf ihrem Rücken in einem der Schlösser. Ich bleibe hier für ewig! Man sagt das so leicht. Ein Paradies ist München, aus dem man nicht vertrieben wird, aber Berlin ist ein Kassenschrank aus Asphalt; der ihm zum Labsal benutzt, hängt sein Herz engherzig als Schloß davor. Ich soll mich so ganz erholen in der bayerischen Hauptstadt. Gibt’s auch Cafés hier? Da winkt schon eins von ferne. Sei mir gegrüßt, oder wie der Bayer sagt »Gott grüß dich, Café Bauer!« Von einem Altan herab ladet es den Vorbeiwandelnden einzutreten, manchmal sogar holt der luftschöpfende Ober den Gast in sein Kaffeehaus nach südlicher Sitte. Ich stelle eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Café Bauer mit unserem Café des Westens fest, unserer nächtlichen Heimat, (grinst nur verfluchte Somaliphilister und Sudanproleten) unserer Oase, unserem Zigeunerwagen, unserem Zelt, darin wir ausruhen nach dem alltäglichen schmerzvollen Kampf. Die Frau Wirtin ist sanft, sie pflegt unsere Launen, die uns der Bürger schlug. Vom Oberober bis zum Unterunter passen die sich dem Rhythmus der Gäste an. Herr Rattke hat wieder ein neues Buch geschrieben in Trochäen über Servieren, verrät mir Richard, der Zeitungsverweser, der Journaltruchseß. Er liest mit Pathos mein Gedicht im Sturm vor über München; ich beginne zu seufzen. Was [78] fangen nun die spielenden Straßen dort ohne mich an und die vielen gaukelnden Herzen? Daß die gesund bleiben, dafür sorgen die Ärzte, namentlich der unvergleichliche Doktor Arthur Ludwig. Alle seine Patienten kommen, weil er der unvergleichlichste Mensch noch dazu ist, nie zur angeschlagenen Zeit in die Sprechstunde, wegen der süßen Speisen und Marmeladen, die zum Mittag aufgetragen werden von seiner emsigen, lieben Haushälterin. Und die bettlosen Patienten und Freunde nahen gewöhnlich mit dem Dietrich und der Zahnbürste im Gewande, sie kommen vom Rande ihres Lebens und der Doktor, ein heiliger Wirt, wie auf dem Bilde in seinem Sprechzimmer, zu sehen ist: »Fräulein Haushälterin, besorge für den Fremdling nun eine Lagerstatt.« Er ist direkt ein Engel. »Ein starkfühlender, intelligenter Engel«, betont ein Kollege von ihm, Doktor Max Nassauer, der dichtende Arzt in München.
Wir gehen alle in den Simplizissimus, in Kati Kobus’ berühmte Künstlerkneipe. Heute kommen die Kegler! Ich meine die Leute vom Kegelabend. Ludwig Scharf trägt mit starkem Ton seine Verse vor, jedes Wort ist an das andere geschmiedet. Sein Gesicht ist eine diabolische Arabeske. Dazwischen tönt die fahrende Stimme des Gitarrespielers und die liebenswürdigen, drolligen Bemerkungen Max Halbes; er gefällt mir sehr. Und all die kleinen summenden Mädchen mit den braunen und blonden Liedern. Und die Hauptsache bleibt die Kati Kobus, die Simplizissimusherrscherin [79] mit dem Kronmal auf der Stirn. Sie ist die Herzogin des Rausches, sie ist eine Regierende. Wer so zu unterscheiden vermag wie sie! Eine Juwelierin, wer so das Angesicht auf sein Geistkarat zu werten vermag. Das Scheiden aus ihrem Nachtgarten, wo das Lachen blüht zwischen Bilderhecken, tut mir besonders weh. »Frau Helene«, sage ich mich ermannend eines Morgens zu meiner Wirtin, »es muß geschieden sein!!!« Berlin! Vom Waggon aus steige ich sofort die Stufen des Kleinen Theaters hinan zur Generalprobe der Vier Toten der Fiametta.
Direkter Wauer fundiert noch seinen letzten Fußstapfen, er legt so das Schreiten und die Gebärden der Spielenden fest. Fest und sicher bewegt sich nun das ungeheure Pantomimendrama und ballt sich wieder zur Einheit. So wohlgeformt und nicht ein Abweichen, nicht ein überflüssiges Zureichen allerleigrauen führen des Schneiders (William Wauer) Klauen die Schneidernadel unentwegt. Grandios ist die Bewegung seines Mundes, die nicht ein stummes Reden, aber ein drohendes Auftun seines Gesichtes bedeutet. In großen teuflischen Zeichen nicht minder, wie ihr Direktor, spielt Rosa Valetti, die Schneidersfrau, und rotangefüllt, ein Blutbezechter, ein wankender Bär, tappt der Lastträger (Guido Herzfeld) auf den Ruf der verzweifelten Fiametta über die Stufen der Treppe, in das Trauerspiel. Das Harlekintrio. Ein Gemälde, das im Anschaun mit dem Körper des Bewunderers [80] verwächst. Und die ungeheure Last Trauerspiel, rollt sich auf einer Musik aufwärts hochmütig über die Leiche verdutzter höhnender Kritik. Herwarth Walden, ein Hodler der Musik, der alles Süßliche zerreißt im Siegeskrampf und Kampf. Morgen ist die Premiere der Vier Toten der Fiametta.
[81] Emmy Destinn
Ich schrieb ihr am Schluß meines Briefes: Semiramis, hinter den düsteren Gängen deines Palastes vermute ich hängende Gärten. Worauf sie ans Ende ihrer Zeilen setzte: Meine liebe Dichterin, meine Gärten sind diesen Abend wilde, verschwiegene Schluchten, kommen Sie und hören Sie mich die Carmen singen. –
Manchmal versteckte ich den Kopf in das Sammetgehang der Loge, den dunklen Strom ihrer Stimme einsam über mich rauschen, tanzen zu hören über üppige Pfade heißer Lippen liebentlang. –
Der Soldat Don José sitzt abseits der Ausgelassenen und schmiedet seine zerrissene Säbelkette; versunken in Mutter, Heimat und Liebchen, dem frischen blonden Blümchen der treuherzigen Provence. Aber da steht sie hoch auf der Brücke, lauernd, hungrig – o, du gewaltige Carmen-Katze! Den Oberkörper weit nach vorwärts gestreckt, schleicht sie Bestienmajestätisch über die Treppe, die zu ihrem Opfer führt. Es durchgreift den Soldaten eine peinigende Unruhe, er vertieft sich gewaltsam in seine Arbeit, aber seine Finger zittern vor ängstlicher Wollust. [82] »Ei, du süßer Kettenschmied!« Und ein Strauß greller Rosen fällt zu seinen Füßen nieder. Die lockende Schwere ihres Liedes ergreift ihn, es berauscht ihn der singende Duft ihres Blutes. –
Und dann Carmens grausames Begegnen mit Don Josés Liebchen, Carmens zum Sieg gerüstetes Entgegenziehn der fremden Rasse, aus der sie ihr Opfer geraubt hat, das sie lieben und peinigen muß und zerstören wird. »Sieh, ich nehme dich, ich verschlinge dich!« Und ihr Gesang und Spiel bekommen Tatzen, die den Geliebten umkrallen, den Kampf seines Soldatenherzens zerreißen und ihn ihr zu eigen machen. Bravissimo, Carmen – Emmy Destinn!
Und nun das Schwärzerwerden ihrer Stimme vor dem verstoßenen, verhöhnten Geliebten, die trübe Todesangst, die sie betastet. Und leise klingt die Hochzeitsmusik, beben die Zaubertöne, die den Soldaten gelockt haben in die Netze ihrer furchtbaren Seele. Carmen! Todwund heben sich die Lider ihrer bebenden Pupillen – ihr Sprung mißglückt. Feierlich singt das Cello und flehentlich die Geigen. Draußen wartet Escamillo. Carmen zerreißt ihre Haut aus Hochzeitsseide und veratmet, noch ehe Don José ihr treuloses Katzenherz durchsticht. Blaß werden die Klänge in der Ferne.
[83] Die Lieb, die von Zigeunern stammt,
Fragt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.
Liebst du mich nicht, bin ich entflammt,
Und lieb ich dich, nimm dich in acht!
Als ich am Tage nach der Vorstellung Emmy Destinn besuchte, saß sie auf ihrer Bank von Gold aufrecht, den Kopf düster gesenkt, wie die Blüte einer Pharaonenblume. Sie trug ein Kleid aus bunten Farben der Gewänder assyrischer Königinnen. In ihren Ohren hingen Gehänge von durchsichtigen, gelben Steinen. »Habe ich Ihnen gestern gefallen?« fragte sie mich. Und ehe ich antworten konnte, pochte es leise an die Tür – mit einer Tasse süßen Duftes trat eine ältere Frau ins Gemach und flüsterte ihrer Königin mit besorgtem Augenrollen und Kopfschütteln einiges ins Ohr. Als sie draußen war, sagte Semiramis zu mir: »Sie war meine Amme und ist noch immer um ihr herangewachsenes Baby in Besorgnis.«
Wir setzten uns an ein kleines Rosenholztischchen. Vor dem Fenster dämmert es schon, in ihrem Gesicht scheinen plötzlich ganz hell die beiden großen, braunen Monde. »Komm, wir wollen um die Rosenholztische Fangen spielen!«
An der Wand, mir gegenüber, hängen die verschiedenartigsten Instrumente, wohl an zehn Geigen. »Und der [84] Flügel dort, ist der Flügel Webers gewesen«, erzählte sie lebhaft. »Und sehen Sie sich auch einmal diese Bildergalerie dort an; ich habe eine mächtige Verehrung für Napoleon den Ersten.« In jedem Lebensalter hängen Bildnisse des ehernen Kaisers von Frankreich da, Briefe in zärtlichen Rahmen, Waffen, die er geschwungen hat, umzäunt mit Lorbeeren. –
Katzen, Hunde, Hasen, Hähne, Puten von leuchtendem weißen Porzellan, venetianische Vasen, vielarmige Leuchter stehen auf stolzen Säulen und Elfenbeintischchen. Da seh’ ich mich zu meinem Leidwesen drei, vier, fünf, immer noch mehrere Male in großen Spiegelwänden. Die schöne Königin hat, ohne daß ich es bemerkte, die Türen ihres weiten Paradieses geöffnet: blühende Seltenheiten und Seide.
»Besuchen Sie mich bald wieder«, sagte sie; ein Lächeln in den tausendjährigen Augen.
[85] Franziska Schultz
In Berlin gibt es eine Fraue, die die Schmerzen Marias leidet, sieben Schwerter im Herzen; und die doch gnadenreich herablächelt auf die Armen und Kranken. Jeder Mensch, der sich ihr nähert, ist ihr Jesuskind. Einen Tempel müsse man um diese Mutter bauen, einen Garten pflanzen, der ihr blühender Mantel sei. Ich kann mich nicht der Fraue nahen, ohne ihr meine Andacht zu bringen. Verirrte Magdalenen treten durch ihres Hauses Pforte ein und rasten; ruhen aus und besinnen sich unter der Liebe ihres Mutterdachs. Franziska Schultz ist die Mutter des Mutterschutzes. Man könnte fast das gefallene Mädchen ihrer Patronin wegen beneiden. Mit fürsorglicher Liebe lullt die höchste Fraue der Gnade die verstoßene Mutter und ihr pochendes Spielzeug mit ihren beiden Armen zärtlich ein. Kein Vorwurf trifft die Tragende, ihres Kindes wegen, das noch auf seinem rechtmäßigen, heiligen Muttererbe blüht. Alle Mütter aber lieben die Eine.
Eine Dame, die den Glanz irdischer Glänze ausdrehte und durch die dunkle Straße schreitet, wo das Elend wuchert. Nun wohnen keine verwöhnten Gäste mehr in ihrem Hause, aber solche, die ein Herz voll Liebe beanspruchen. Tragende und Beladene treten durch ihres Herzens geöffnete Pforte ein. Maria!
[86] Kete Parsenow
Die Venus von Siam ist die Kete Parsenow. Feingebogene Dolche sind ihre Augen, wie die der Göttinnen in goldenen Tempeln.
Peter Altenberg gab vor einigen Jahren eine Zeitschrift heraus, auf jeder Seite stand »sie« in blonden Farben. Die Kete Parsenow spielte damals in Wien am Theater; nun wird sie hier spielen, und doch sollte solche Schönheit verborgen bleiben, im heiligen Haus zwischen geopferten, schweigenden Blumen. Im Sommer begeisterte sie hier als Ophelia die Zuhörer. Blutschwarz sank Hamlets Kopf in den Schnee ihres Schoßes. Immer wird sie die Jungfrau der Schauspielerinnen bleiben; sie ist unbetastete Skulptur. Einmal legte sich vor ihr nieder eine weiße Steppenhündin und wurde ihr ähnlich. Als sie vom Strauch eine Rose pflückte, blühte die höher in ihrer Hand. Sie ist selbst ein Wunder. In der Frau vom Meere erschrak sie vor dem Überschwang ihres Herzens. Und Ibsen, was hätte er gesagt, wenn er der Kete Parsenow begegnet wäre, seiner Generalstochter Hedda Gabler. Kete Parsenow ist sich ebenbürtig, sie ist ebenso schön wie großherzig. Elfenbein ist ihre Haut; immer singt ihr Gesicht. Einmal wurden die Sicheln der Venus zu Monden, als sie böse war. Ich sah die Venus von Siam lächeln, ich sah die Venus von Siam sterben.
[87] Ruth
Sie müßte eine Patronesse haben – etwa die Kaiserin von Island oder eine reiche Eskimotochter; vielleicht wird es eine Inger auf Östrot sein. Ruth ist eine Tragödin. Schon seit zwei Jahren spielt sie mit Vorliebe Partien aus Ibsens Werken. Ihre Dreijahrärmchen heben sich zürnend zum Himmel: »Götter!« Ich habe Ruth nie lachen sehn und auch weinen nicht, wie andere Kinder. Ruth lacht mit Vorsicht, plötzlich hält ihr Gesichtchen wie eine kleine Sonne zu leuchten inne – und weinen tut Ruth, um wieder zu lachen. Und am Abend dauert es eine Weile, bis sie einschläft, gerne läßt sie einen schmalen Guckspalt offen für den Morgen, ob auf der Heizung ein Schokoladencakes liegt, von einem verkleideten Onkel als Nikolas oder einer Zuckerhäuschentante gespendet. Ruth gastierte zum erstenmal im Vorgarten des Cafés des Westens, sie war damals zwei Jahre alt und trug ein weißes Kleid über glänzenden Stoff von der Farbe ihres Mündchens, das auf einmal zum Mund wurde, wie gehext, strenge Furchen zog; ich erschrak. Und noch dazu der finstere Ibsenblick, der mich furchtbar einschüchterte. Immer tiefer sank Ruths Lockenköpfchen auf die Strohröhre herab, die vor ihm im Glase steckte: »So trinkt ›Er‹ [88] Limonade.« »Er« hängt im mächtigen Rahmen im Zimmer ihrer Muttertragödin (Beß Brenk) und immer steht Ruth vor seinem Angesicht und besieht es sich, ob es auch noch so macht wie »sie«. In Klein-Ruth schlägt das große Ibsenherz, und als Ibsen sein Puppenheim schuf, pochte sicher ein kleines Anhängsel an seinem schweren Schlag, ein Goldherzchen, in dessen Mitte ein himmelblaues Perlchen rauschte. Ruth springt vom Stuhl, tanzt in ihren niedlichen Goldkäferstiefelchen, die Röcke nach unten geglättet – nun hat sie ein langes Kleid an. Sie tanzt einen herablassenden, zurückhaltenden Tanz; da, als ob ein Sausevogel durch ihren Kopf fliegt – fort will ihre kleine Seele – ihre Beinchen sind ganz nackt; über Stühle und Tische hinweg – Ruth, Ruth! Ich glaube, sie sitzt oben auf dem Ast des jungen Baumes vor dem Caféhaus. Was soll man dazu sagen – Genie? Fort mit dieser alten Denkmalhülle, sie tut dem Kind weh, aber in ein Wunder wollen wir die wundervolle, kleine Ruth kleiden; in einem goldenen Bettchen soll Ruth schlafen und von einem goldenen Tellerchen und einem goldenen Löffelchen essen und auf dem Becher, aus dem Ruth fürder trinken soll, steht in Goldbuchstaben geschrieben: Ruth. Sie schüttelt den Kopf wie eine Herrscherin, ich glaube, sie ist beleidigt, nicht um der vielen goldenen Sachen wegen, der Ober hat ihr Zucker schenken wollen; sie gleitet schwerfällig vom Stuhl, streckt den Leib wie eine Kugel vor, ihr Engelsgesichtchen bekommt Runzeln – »dicke Frau is satt«.
[89] Unser Café
Ein offener Brief an Paul Block
Sire, Sie möchten etwas aus unserem Café wissen, aber unser Café ist schon seit ungefähr Pfingsten nicht mehr unser Café. Gestern las ich in einer Chicagoer Zeitung, die mir meine Schwester aus Amerika sandte, schwarz auf weiß, warum unser Café nicht mehr unser Café ist, bitte hören Sie Sire. »Früher war das Stelldichein all dieser ›Radikalen‹ das Café Größenwahn. Aber eines Tages verbot der Besitzer der Dichterin Else Lasker-Schüler, die zu diesem Kreise gehört, das Lokal, weil sie nicht genug verzehre. Man denke! Ist denn eine Dichterin, die viel verzehrt, überhaupt noch eine Dichterin? Sie empfand das mit Recht als eine unerhörte Beleidigung, als schimpfliches Mißtrauen gegenüber ihrer dichterhaften Echtheit. Ebenso dachten die anderen. Daher verließen sie empört das Lokal.«
Ob das alles nun wortgetreu wiedergegeben ist, – jedenfalls begab sich die Schreckenstat an einem Sonntag, meine Seele wurde Werktag, bäumte sich auf und sehnte sich nach Revolution. Kein Vers, keine Stimmung, kein Pathos, nicht der schäumendste Überschwang hatte unsere Gemeinschaftlichkeit so fädenverstrickt zusammengerollt, wie diese unerhörte Begebenheit; Herr Café-des-Westens [90] hatte mir, uns allen, das Betreten seines Cafés ein für allemal untersagt. Ungeheuer! Allerdings, wenn ich auch nichts verzehrt hätte. Aber dem war nicht so, ich war gerade im Begriff, meine zweite Bestellung zu entrichten, Schokolade mit Sieb (da ich die Haut nicht mag), als Herr Café-des-Westens aus einer Ecke auf mich Lesende losstürmte und rief, es geht nicht, daß Sie hier sitzen bleiben, ohne etwas zu verzehren!!! Neben mir saß mein Reichskanzler Bisam O. Er ist feig, aber seine rosa Haare standen Hügel, wurden brandrot und sprühten Feuer. Dann kamen hintereinander meine verehrten Freunde, die Häuptlinge und die Schlacht begann.
Soll ich Ihnen nun noch über die früheren Ereignisse dieses Cafés erzählen oder genügt es, wenn ich Ihnen sage, Sire, daß wir dort die schönsten Abende, namentlich zu Zeiten Lublinskis, erlebten; den haben wir alle kolossal verehrt, und er lachte selbst herzhaft, wenn ihn der »Blümner« nachahmte. Unser Zorn liegt nun über dem Café des Westens wie über einem verlorenen Paradies, in dem wir nicht sündigten, aber das an uns sündigte. Als wir auf der Straße standen, gedachten wir mit Wehmut des Gründers unseres verlorenen Cafés. Herr Rocco hatte es sich als besondere Freude angerechnet, daß wir Künstler in seinen Räumen verkehrten; wir Künstler haben sozusagen das Café des Westens mit auf die Welt gebracht, wir Künstler haben ihm das erste Feierkleid geschenkt, wir Künstler haben es zur Königin aller Cafés [91] erhoben! Einer von uns hielt diese Rede in die Nacht hinaus, ich glaube, ich war’s, und den Chor gaben meine tiefergriffenen Kameraden und Kameradinnen. Allerdings war Rocco kein Bär, noch nicht einmal ein Tanzbär, keinesfalls ein Brummbär. – – –
Nur einmal in der Woche treffen wir uns nun Konditorei Josty am Zoo, wir wollen keine Kaffern mehr sein. Auf einer Erhöhung sitzen wir an zwei Tischen, und Sonnabend halten wir Geheimsitzung. (Unter Diskretion bitte.) Wir wollen Herrn Café-des-Westens zwingen, sich zu entleiben, ich schlage vor, mit dem Cafélöffel. Bitte, hochverehrter Sire, kommen Sie doch unverhofft einmal, aber machen Sie sich keine Illusionen. Wir sind ganz leise und flüstern, scheint’s nur so von Mund zu Mund, lauter Spielereien. Wäre doch einmal nur einer größenwahnsinnig. Hysterisch sind nur Dilettanten. Manchmal aber reißt einer unseres Stammes schnaubend die Türe der Konditorei Josty um Mitternacht auf, den Tubutsch im Gewande. Doch unsere größte Überraschung bleibt, wenn unser Sänger kommt, der Dresdener Hofopernsänger Franz Lindner. Aus der Liedertafel holte ihn mein Heimatfreund Paul Zech. Noch sitzt überfließender Tenor in seiner Kehle, er muß uns den Rest weich über den Tisch herüber singen. Dann kommt eine innige Freude des Beisammenseins über uns, denn wir Künstler sind Kinder.
[92] Marie Böhm
Ecke Französische und Charlotten-Straße lachen aus einem der Glaskästen schöne, weiße Zähne, zwischen frischen Lippen in Mädchengesichtern. Manche von den jungen Schauspielerinnen offenbaren ihre ureigene Begabung, denn ihre Perlmutterhecken sind gar nicht erschaffen, am Abend hinter zuckenden Lippen versteckt zu schimmern. Über dem Atelier von Marie Böhm scheint auch der Himmel zu heiter; die wundervolle Photographin kann nicht genug Vorhänge über die Sonne ziehen, die macht immerfort ein freundliches Gesicht. Marie Böhm ist die Eigentümerin des kunstphotographischen Ateliers Becker und Maaß. Man kann sich ohne Gefahr vor Entstellung vor ihren Apparat begeben. Marie Böhm weiß im richtigen Augenblick den Blick vom Auge zu nehmen. »Der nichtssagendste, ausdrucksloseste Mensch hat einen Augenblick, den muß man eben festhalten.« Ihre lieben, blauen Augen strahlen, als sie das antwortet. Ich verstecke mich unter einem Tisch hinter langen Laubgewächsen, um einige Aufnahmen zu beobachten. Daß das nicht angehe, meint Fräulein Böhm – schon naht das Brautpaar, ich rufe ihr aus meiner Lage zerstreut zu, sie soll sagen – im Fall – ich bin Arzt und interessiere mich für neuartige Operationen. Diese Ideenverwirrung [93] stammt von meinem Vater her, er verwechselte immer das Zahnziehen mit dem Photographierenlassen. Beides hat so was mit dem Herausholen zu tun – und – »der eine Augenblick«. Marie Böhm aber hat keine Zange in der Hand. Bräutigamundbrautumschlungen sitzen die Beiden auf der Bank und drehen ihr den Rücken zu; ihre Gesichter blicken sich auf einmal nach etwas um. Ob sie mich quaken hören aus meiner Froschperspektive? – »Danke!« Zweite Aufnahme. – Für die Photographien müßte es auch eine Welt geben aus gediegenem Silberoxyd im Krinolin. Das Album ist aus der Mode gekommen, darin sich das photographierte Onkeltantengeschlecht zum Aufblättern befand; es stirbt nicht aus. In Schalen liegen all die Pietäten, Frauen, die sich auch schon Löckchen drehten. Nun sind unsere Kleidersäcke zugebunden. Auf den spätverwandten Bildern stehen die Röcke weit in Runden. Ihre Augen aufgetan in Todesangst – den Augenblick zu greifen, heute hascht ihn die Photographie wie einen Schmetterling vom zwanglosen Sichgehenlassen. Und gerade meine liebe Marie Böhm ist eine so große Photographin – sie photographiert auch ohne Apparat gerade mitten in der Sonne mit geschlossenen Augen, wie der Maler malt ohne Pinsel im Spazierengehen, im Anblick, im Nachsinnen. Wenn ich ihr gegenüber sitze, wartet sie auf die Falte zwischen meinen Brauen.
[94] Ein Amen
Einmal, als ich sie besuchte, malte jemand ihre Hand – eine schmale Dolde am Ast, eine Seele, die blühte. Ellen Neustädter spielt nicht zur Schau; ihr Spiel ist eine tiefe Dichtung. Die Bühne fängt die Geschehnisse ihres Herzens auf und reicht sie dem Besucher, ein vielköpfiges Ganzes. Sie gibt dem Gemach oder der Landschaft die Farbe, und ihr Odem ist überall. Die Damen vom künstlerischen Theater in Moskau könnten ihre Schwestern sein; die haben allerdings ihre Partner, ihre Zugehörigkeit. Ellen Neustädter hat nur einen gleichwertigen Bruder in Berlin: Oskar Sauer. Warum trennt man das rechtmäßige Spielerpaar? Klein Eyolfs Eltern sind sie. Schwere, hehre Paradiesstimmung, düstere Ernte. Eine Engeline: Ellen Neustädter; der Erzengel unter den Schauspielern ist Oskar Sauer. Was ihre Lippen bringen, ist Kunst aus Segen gewölbt. Sein Spiel segnet, ihr Spiel belohnt; ist ihr Wesen aus Glas, sein Wort aus Strahl. Immer erzwingt die Gabe der beiden Wunderkünstler ehrfürchtige Anbetung. Es schneite draußen weiße Sterne. Oskar Sauer war seinen Leiden erlegen in »Nora«. Ich stand noch lange nach Schluß der Vorstellung am Theatertor – ich bildete mir ein, er sei wirklich gestorben. Auch heute wagte ich mich nicht [95] stürmisch zu begeistern. Ellen Neustädters Seele ist eine zagende Dolde. Durch die lange Theaterabendstraße ging ich auf Zehen heimwärts, denn mein Herz träumte noch. Genial ist das Unantastbare, Erzengel ist alles Genie, es erlöst vom Täglichen, bringt Verlorenheit und Seligkeit zugleich.
[96] Egon Adler
Meine Spelunke verwandelt sich zum türkischen Café, wenn er und ich zusammen Zigaretten rauchen und wir von den Wänden für unsere Häupter die beiden Fez herunterholen, die auf die Griffe meiner Dolche gestülpt sind.
Einer der Söhne des gefangenen Abdul Hamid, der begabteste jedenfalls, ist der Maler und zur Mokkastunde der Gast meiner Palastspelunke. Wir sprechen (in der Zeit der Abendhimmel alle seine goldenen Bilder aufs Dach stellt) von roten, blauen, grünen und lila Dingen. Ich rate Egon Adler: »Sie müssen immer nur Ihr Selbstbildnis malen«.
Er ist so ganz Eigen, ganz Sich, und sein Herz in einem Rahmen. Aber in seinem Herzen liegt sein jungverstorbener Bruder begraben, und innige Gestalt schafft des Malers Hand, wenn der Engel seiner Erinnerung aufersteht.
Zwischen den Farben liegt er dann plötzlich – Stern zwischen Zinnober und Marin auf der Palette für die großen Pinsel. Alle Bilder Egon Adlers sind Spiele, sind [97] süß, haben großgeöffnete Augen, sind ganz in Gottes Vaterhand und rufen.
Sein Mariengemälde holte ich mir aus einer dunklen Ecke des Ausstellungssaales ans Licht: »Träume, säume Marienmädchen, überall bläst der Rosenwind die schwarzen Sterne aus; wiege im Arme dein Seelchen – alle Kinder kommen auf Lämmern hottehotte geritten, Gottlingchen sehen und die schönen Schimmerblumen und den großen Himmel da im kurzen Blaukleide.«
Aber auch die drei Könige sind gekommen; einer sitzt auf des anderen Schulter, der höchste trägt ein Krönchen, ist des Malers Bruder und will Mariens heiliges Spielzeug haben.
Auf Egon Adlers unvergleichlichem Schöpfungsbilde steht sein Brüderchen verzaubert als Mantelkranich mitten auf der Wiese und macht den frechen, kleinen Vögeln bange. Als Reiter reitet er auf dem langausschreitenden Reiterpferd durch den Wald über die Wege aus bunten Fahnenstreifen.
Immer muß Egon Adler die Geschichte des unvergeßlichen Bruders in Farben erzählen, der ist der Memed seines Mohammedherzens.
Hinter den Paradiesbäumen, in den Schornstein seiner Stadtbilder, überall hat sich der kleine Bruder versteckt; [98] er ist es, der den Glorienschein um die Heiligenlocken der Jüngergestalten seines älteren, malenden Bruders anzündet.
Das sich wiegende Blatt der Palme, auf dem Treibhausgemälde ist der Kleine, seine Seele leuchtet im Stein des Ringes am Finger des japanischen Schauspielers.
Elfjährige Kinderaugen gucken unter der Stirn des Selbstbildnisses von Egon Adler und erhöhen es zum Selbstantlitz. Und in den Wolken tummelt er sich als Mond.
Ewig ist Egon Adlers Malerei, ein Engel lebt in seinem Herzen und hängt seinen Schöpfungen Flügel an.
[99] Rudolf Blümner
Den Mephisto spielt er jeden Abend, eine Privatvorstellung im Freundeskreis. Ohne witzelnde Fußspitzenpose – der Doktor hat Humor, der im Kranichschritt mit dem Schwermutflügel einherschreitet. Wenn er nicht kommt, sind wir alle belämmert; die gretchenblondesten Mädchenköpfe freuen sich, wenn der Mephisto endlich doch kommt. Er versteht Greisengesichtern lächelnde Jünglingsaugen einzusetzen, wenn er bei Laune ist und sein Herz mit übersprudelndem Schalkwillen vorträgt. Wehe aber, wenn er durch die Türe kommt, und sein Hut sitzt schief in die Stirne gedrückt – es regnete –, er konnte heute kein Luftbad nehmen, ein paar Sätze von der Galle, mehr hören wir nicht. Aber seine Galle ist kariert. Nie war ein Hut so mit seinem Kopf verwandt, wie Doktor Blümners Hut. Der ist ein Mime, durchblutet mit den Eigenarten seines Trägers. Unter Hunderten würde ich den Hut des Doktors herausfinden, namentlich aber dann, wenn der Rand seines Panamas lacht; er sitzt rund hinten im Genick. Etwas muß der Doktor heut’ ausführen, ich warte am liebsten mitten im Zimmer, wenn er Klavier spielt, ich kann dann so mit seinen Späßen laufen – er spielt eine eigenvertonte Polonäse, er führt sie an. Seine Finger springen wie ungezogene Jungen über die Tasten, [100] schlagen Kobolz, zanken sich; plötzlich steht er gravitätisch auf: »Der Schlaf erwartet mich!« Aber in Wirklichkeit steht der Vollmond vor seinem Fenster, hinter dem Ohr einen Federkiel. Der Doktor muß noch einen Essay schreiben. Seinen Lehrer im Frühlingserwachen – wer kann ihn je vergessen und die Grazie des Ricco in Minna von Barnhelm. Er ist der Aristokrat des großen Schelmenspiels. Aber auch sehr oft beliebt es dem Doktor, sein ernstes Wesen dem Publikum zu schenken; es steht ihm am besten; kehrt es ein – kommt es hervor aus seinem tiefsten Herzensschatten. In diesem Monat hält der Doktor wieder einen Vortrag, es sind die schönsten Abende, goldene Atrappen mit überraschendem Inhalt. Als er die Geschichte der Schneider von Keller vorlas, glaubte ich, die drei zum Schluß verschwinden zu sehn aus dem Saal. Er machte nämlich auch ein Gesicht, als ob sie ihm weggelaufen wären. In seinem feinen Profil ist seine schöne Nase tragisch geschnitten nach Gemmenart. Das Leben fällt gelassen vor ihm.
[101] Hans Heinrich von Twardowsky
(Seinem treuen Freund Moritz Seeler)
Hans Heinrich, der liebenswürdige Parodiendichter und Schauspieler, trug vor einigen Tagen zum wiederholten Male dem entzückten Publikum seine Verse vor; nun schenkt er sie in einem Buch aufbewahrt allen denen, die Freude an seinen Gedichten hatten. Bunte lachende Schelme, geschmückt mit Rittersporn und Rosmarin taumeln über seine Lippen liebentlang, keinem der Heimgesuchten und Versuchten verletzend auf die Nerven fallend, aber sicher ihr Ziel erreichend. Ein schwärmender Prinz Carneval ist Hans Heinrich, ein gerüsteter Pierrot, begleitet von seinem Knappen, der ihm das Rosenblatt trägt.
Auf der Düne, die weit ins Meer führt, begegnete ich dem entschlossenen siebzehnjährigen, abtrünnigen Hans Heinrich, er widersetzte sich standhaft seiner Familie und antwortete auf ihre Forderungen in Knittelverschen, die er den einzelnen Mitgliedern in Knallbonbons übersandte. Nur seiner Mutter Zustimmung zum Schauspielerberuf gewann der hingebende Jüngling durch Küsse.
Wir gründeten am Strand des Ozeans eine Filiale des [102] Deutschen Theaters; das heißt, wir trafen uns gemeinschaftlich mit noch einigen verlorenen Söhnen und Töchtern zur Tausendundeinernachtstunde und spielten Shakespeares »Richard«, den »Carl Moor« und eigene Räuber. Aber auch Ibsens Gestalten wußte Hans Heinrich wundervoll zu beleben. In seiner Glanzrolle der »Hedda Gabler« bewunderte ich ihn allabendlich, er erinnerte mich an den japanischen Schauspieler des asiatischen, künstlerischsten Schauspielvolks, das, indem es die weibliche Hauptrolle vom »Schauspieler« darstellen läßt, mit doppelt kraftvollem Akkord das femine betont und zu gleicher Zeit entwirklicht. Den schlanken, weiblichen, jungen General, die Tochter Gablers spielt Hans Heinrich charmant, gebieterisch und voll Charme. Er kann die älteste Exzellenz seinen Vater im Grabhimmel doch nicht verleugnen.
Das Meer rauschte unaufhörlichen Beifall, wenn auch ohne Ovationen, es brachte keine Muscheln von der Reise mit, Seeteufelchen und Spuk, Wasserspielzeug, wie die Nordsee, wo ich dem Hans Heinrich schon einmal begegnete, in der Sonne gelähmt im Wagen sitzend. Alle Leute verwöhnten den schönen Jungen mit den traurigen feinen Augen, die blaue Spur lassen. Namentlich die Frauen, die er aber auch wie ein Süßweinkenner bis in den kleinsten Tropfen richtig beurteilt. Ich denke gern an unsere Streiche in Warnemünde, wenn wir die schlafenden Badegäste durch Scheinbrände in Panik versetzten. Am liebsten bestiegen wir die Kanzel der Dorfkirche, unsere Gedichte [103] einem andächtigen Mütterchen vorzutragen, das mit frommem Besen und seligem Staubtuch den Altar und die Bänke säuberte. Sie glaubte an unsere frommen Verse wie an den heiligen Christophorus, der das Kind, »die Welt«, erklärte uns die liebe, armselige Frau, auf dem Rücken trage. Und sie lobte unsere Predigten, die so weich aus unserem Munde kämen.